# taz.de -- FUTURZWEI-Interview mit Jens Balzer: „Wokeness ist ruiniert“ | |
> Mit seinem Buch After Woke sucht Jens Balzer eine Perspektive für die | |
> postkoloniale und emanzipatorische Linke nach ihrem „moralischen | |
> Bankrott“. | |
Bild: Jens Balzer will mit seinem Buch für Selbstkritik und gegenseitiges Zuh�… | |
[1][taz FUTURZWEI]: Herr Balzer, Sie dachten, die Woken seien Ihre Leute, | |
„eine intellektuelle und politische Heimat“. Dann kam der 7. Oktober 2023. | |
Und nun? | |
Jens Balzer: Ich wurde am Ende des letzten Jahres fast wahnsinnig. DJs, zu | |
denen ich schon getanzt und mit denen ich zum Teil aufgelegt hatte, haben | |
die Massaker des 7. Oktobers bestritten. Künstlerinnen, die sich bis dahin | |
besonders aware und feministisch gegeben hatten, haben die sexualisierte | |
Gewalt der Hamas relativiert oder geleugnet. Autorinnen, Aktivistinnen, die | |
sich bis dahin dem Kampf gegen rassistische Diskriminierung und für mehr | |
Sensibilität in der Sprache und im Umgang mit anderen Menschen verschrieben | |
hatten – die übernahmen plötzlich ganz ungeniert antisemitische Stereotype. | |
Wir waren Freund:innen gewesen, oder Allies, so dachte ich zumindest mal. | |
Und dann war da diese völlige Empathielosigkeit, die sich durch die woke | |
Szene zog, sodass vieles von dem, was sie sich vorher auf die Fahnen | |
geschrieben hatte, jetzt nur noch wie Heuchelei wirkte. Das war das eine. | |
Und das andere? | |
Auf der anderen Seite war da das konservative Feuilleton, das sich | |
sichtlich darüber freute: Hurra, das Ende von woke ist endlich da. Die sind | |
alle Antisemit:innen und haben sich jetzt endgültig selbst erledigt, darum | |
kann man den ganzen Rest – den Kampf gegen Diskriminierungen aller Art – | |
auch vergessen. Dieser Triumphalismus war natürlich ebenso furchtbar. | |
Am 7. Oktober 2023 wurden von der islamofaschistischen Terrorgruppe Hamas | |
hunderte Menschen israelischer Staatsangehörigkeit umgebracht. Warum gibt | |
es postkoloniale und emanzipatorische Linke, die das bejubeln und sich | |
damit solidarisieren? | |
Das habe ich mich auch gefragt. Nach dem 7. Oktober hielt man in weiten | |
Kreisen der postkolonialen Szene an einer Einteilung in israelische | |
Täter:innen und palästinensische Opfer fest: Weiße Kolonialist:innen aus | |
dem Globalen Norden gegen die Kolonialisierten aus dem Globalen Süden. | |
Israelisch-jüdische Opfer kamen in dieser Gleichung nicht vor, weil weiße | |
Menschen in diesem vulgären Verständnis von Postkolonialismus keine Opfer | |
sein können. Weiß gegen Schwarz – um es mal traditionell marxistisch zu | |
sagen – ist in dieser Weltsicht der Hauptwiderspruch, und alles andere sind | |
Nebenwidersprüche. | |
Was genau sind die Nebenwidersprüche? | |
Offenbar sind Sexismus und Patriarchat hier wieder zu einem geworden. | |
Anders ist es nicht zu erklären, warum die krasse Misogynie, Homophobie und | |
der Sexismus der Hamas und breiter Teile des politischen Islams in den | |
Debatten keine Rolle spielen. „Queers for Palestine“, Himmel hilf. Deshalb | |
wurden dann auch die Erzählungen der getöteten, verschleppten und | |
vergewaltigten jüdischen Frauen in der Wüste Negev teilweise geleugnet. So | |
wie alles, was nicht ins postkoloniale Weltbild passt. | |
Was war Wokeness für Sie davor? | |
Wenn man in einem positiven Sinne von Wokeness spricht, dann ist das doch | |
erstmal nichts anderes als das, was Jürgen Habermas einmal als Diskursethik | |
bezeichnet hat. Die Frage war: Wie kann man in einer diversen Gesellschaft | |
sicherstellen, dass alle Menschen an öffentlichen Diskursen | |
gleichberechtigt teilhaben können? Der Einsatz war: Die Kultur- und | |
Denkbetriebe sollen der Diversität und Komplexität der Welt gerecht werden. | |
In den Clubs standen immer nur weiße Dudes hinter den Pulten. Die gesamte | |
Kulturindustrie gründete auf sexistischer Ausbeutung. In der | |
Geschichtswissenschaft und der Philosophie wurde die Welt nur aus dem | |
Blickwinkel weißer Männer betrachtet. All das wollte das woke Denken, der | |
woke Aktivismus mal ändern. | |
Wokeness steht jetzt für etwas anderes? | |
Der Begriff ist ruiniert. Ich glaube: nach dem 7. Oktober endgültig, durch | |
die Bigotterie und die Selbstgerechtigkeit vieler woker Akteur:innen – und | |
durch den Hass, der unter dem ganzen Gerede von Sensitivity und Awareness | |
plötzlich zum Vorschein kam. Aber natürlich war Wokeness vorher schon von | |
selbsternannten Anti-Woken zum Gegenstand eines Kulturkampfs gemacht | |
worden: Woke ist für die alles, was dem Wunsch der alten und neuen Rechten | |
nach einer patriarchalen, formierten, autoritär geführten Gesellschaft | |
entgegensteht. Auf der einen Seite haben wir das identitäre Denken der | |
Anti-Woken und auf der anderen Seite eine woke Linke, die sich selbst immer | |
weiter identitär verhärtet. Da haben sich zwei gefunden. Kommunizierende | |
Röhren. | |
Sie schreiben sinngemäß: Leute, die sich sonst von allem verletzt fühlen, | |
zeigen kaum Mitleid mit einem Massenmord an Juden. Verkehrt sich ihr hoher | |
moralischer Anspruch ins Gegenteil? | |
Selektiver Humanismus. Die Wokeness, also das Wachsein für | |
Diskriminierungen, gilt in manchen Teilen der Linken nur für die eigenen | |
Opfergruppen. Da geht es dann nicht darum, die gleichen Rechte für alle | |
durchzusetzen. | |
Welche Menschen sind da in ihrem Urteil so fatal gescheitert? | |
Nach dem 7. Oktober waren es Gruppen wie Strike Germany, Queers for | |
Palestine, und natürlich vorher schon BDS ... | |
... die transnationale Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions, die den | |
Staat Israel isolieren will ... | |
... und alle, die den Boykott von israelischen Institutionen, aber auch | |
generell von jüdischen Menschen zum legitimen politischen Mittel erklärt | |
haben. Gerade existiert diese Auseinandersetzung im Kulturbetrieb, es gibt | |
schwarze Listen von jüdischen und israelischen Künstler:innen, die nicht | |
mehr gebucht werden, und von israelischen Universitäten und | |
Wissenschaftler:innen, die vom internationalen Wissenschaftsbetrieb | |
ausgeschlossen werden. Auf so etwas kann man ja nur kommen, wenn man | |
Menschen nicht mehr als Individuen sieht, sondern nur als | |
Repräsentant:innen eines Staates, eines Volkes, irgendeines Kollektivs. Und | |
die Welt entlang dieser Identifizierungen einfach in Gut und Böse | |
-unterteilt. | |
Liegt in diesem binären Denken etwas Gemeinsames zwischen diesen woken | |
Linken und Rechtspopulist:innen und Rechtsradikalen? | |
Die Diskurslage ist so extrem komplex, so widersprüchlich, dass man das gar | |
nicht so einfach beantworten kann, spätestens seit die beiden Klarsfelds | |
gesagt haben, sie wählten Rassemblement National, weil die Linke in | |
Frankreich so antisemitisch geworden sei. | |
Beate und Serge Klarsfeld haben ihr Leben damit verbracht, | |
Nazi-Verbrecher:innen aufzuspüren. | |
Auf der einen Seite haben wir in den USA Teile der Republikaner erlebt, die | |
ihre Anti-Wokeness gegen alle pro-palästinensischen Demonstrant:innen an | |
den Universitäten voll ausgelebt haben im Sinne ihres generellen | |
Kulturkampfs gegen die liberale Demokratie. Auch die hatten natürlich den | |
perfekten Sündenbock gefunden. Auf der anderen Seite demonstrierten Anfang | |
Juli in Detroit islamistische Aktivist:innen gemeinsam mit dem Ku-Klux-Klan | |
gegen den „Genozid in Gaza“ und den „jüdischen Suprematismus“. Der | |
amerikanische Nazi ist in weiten Teilen immer noch stabil antisemitisch, | |
während die französischen Rechtspopulist:innen sich geläutert geben. Und | |
bei der AfD weiß man es nicht so genau. Man weiß eben nichts mehr, außer | |
dass sie alle gegen die liberale Gesellschaft sind. | |
Wo sind diese Woken falsch abgebogen? | |
Nehmen wir zum Beispiel den Postkolonialismus. Für den war die Überwindung | |
des kolonialistischen Denkens früher immer auch gleichbedeutend mit der | |
Überwindung des identitären Denkens und des Gegensatzes zwischen Schwarz | |
und Weiß. Von Stuart Hall gibt es das schöne Zitat: Antirassismus kann | |
nicht bedeuten, dass man den Rassismus einfach nur umkehrt, also dass jetzt | |
die Schwarzen nur gut und die Weißen nur böse sind, es muss darum gehen, | |
die Komplexität der Verhältnisse abzubilden. Und dazu gehört auch, dass | |
sich kulturelle Identitäten unentwegt wandeln, gerade in einer von Diaspora | |
geprägten und globalisierten Welt. Bei den Denker:innen des | |
Postkolonialismus aus der Epoche der Postmoderne – bei Stuart Hall, aber | |
auch bei Édouard Glissant, bei Paul Gilroy – ging es dementsprechend immer | |
um die Veränderung, ums Hybride, das Kosmopolitische, die Ambivalenz, um | |
die Feier des Uneindeutigen. | |
Und das ging dann verloren? | |
Das änderte sich in der Theorie und im Kulturbetrieb in den 2000er-Jahren. | |
Auf die Euphorie der befreienden Kraft der Globalisierung folgte die | |
Ernüchterung: Sie ist doch nur die neoliberale Herrschaft von | |
multinationalen Trusts. Deshalb wollte man zurück zum Ursprung, also zurück | |
zum Indigenen. Die alten Traditionen sollten wiederentdeckt und gegen die | |
feindliche Moderne abgesichert werden. Der Kulturbetrieb hat sich darauf | |
eingelassen, den Fimmel fürs Indigene sieht man überall von der Documenta | |
Fifteen bis zur letzten Venedig Biennale. Sicher ist es wichtig, vergessene | |
oder unterdrückte Traditionen zu bewahren, aber dabei besteht auch die | |
Gefahr, vermeintlich indigene Völker auf eine vormoderne Ursprünglichkeit | |
festzulegen – und kulturelle Identitäten nur noch aus der Vergangenheit her | |
zu denken, von der Scholle und vom Völkischen her. | |
Progressive Identitäten sind keine „reinen“ Kulturen, sondern hybride, | |
widersprüchliche, sich weiterentwickelnde. Faschist:innen und | |
Rechtspopulist:innen gehen von einem „natürlichen“ Volk aus, das im Kampf | |
gegen die Moderne steht. | |
Auch in der Linken hat sich eine Nostalgie breitgemacht für | |
verlorengegangene, vermeintlich näher an der Natur befindliche Zustände. | |
Diese Entwicklung gibt es seit 2010, parallel zum Aufstieg der | |
Rechtspopulist:innen in Deutschland und mit Trump. Heute gibt es eine | |
Fixierung aufs Vergangene und auf die Herkunft. Ist das nicht vielleicht | |
auch ein Zeichen dafür, dass wir Angst davor haben, uns mit dem | |
postheroischen Werden zu befassen? | |
Was wäre eine positive Perspektive? | |
Man kann nur wieder zusammenkommen, wenn alle Luft holen und sich fragen, | |
ob sie der politischen Lage und ihrer ganzen Komplexität gerecht werden. Ob | |
sie nicht selbst in dieses identitäre Denken verfallen sind, das man immer | |
der rechtspopulistischen Gegenseite vorwirft. | |
Ich kann solidarisch mit dem jüdischen Leid sein und mit dem der | |
Palästinenser:innen in Gaza. | |
Für die Linken gibt es keinen anderen Weg raus – außer Selbstkritik und | |
einander wieder zuzuhören. Dafür plädiere ich in meinem Buch, auch wenn | |
meine Hoffnung eher bescheiden ist. Ein seit Langem befreundeter Journalist | |
begrüßte mich neulich am Tresen als erstes mit den Worten: Du gehörst ja | |
jetzt auch ins andere Lager. So kommen wir nicht weiter. | |
Sie beobachten eine identitäre anti-woke und eine identitär verhärtete woke | |
Bewegung. Was meint in diesem Kontext Ihr Buchtitel After Woke? | |
After Woke, das ist von mir nicht als Imperativ gemeint, sondern als | |
Epochenbeschreibung. Wir befinden uns in einem historischen Zustand, wo das | |
positive Potenzial von woke nicht mehr gesehen wird, wo woke eigentlich nur | |
noch als Schimpfwort wahrgenommen wird. Die Frage ist: Wie können wir | |
retten, was zu retten ist – und was gerettet werden muss? Wie retten wir | |
die Wokeness vor ihren Verächter:innen und vor ihren falschen Freund:innen? | |
Ich glaube nach wie vor, dass der Kern des woken Denkens die Bewahrung der | |
deliberativen Demokratie ist. Das hinzubekommen, dafür ist dieses | |
eigentliche Woke-Denken das Einzige, was uns bleibt. | |
■ Der Mann: Journalist (Die Zeit) und Sachbuchautor, Jahrgang 1969, lebt in | |
Berlin. | |
■ Das Buch: After Woke. Matthes & Seitz Berlin 2024 – 110 Seiten, 12 Euro | |
21 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
paulina unfried | |
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