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# taz.de -- berliner szenen: Heute ein Eis, morgen auch
Die Frau ist phänomenal. Sie bedient den ganzen Sommer schon in diesem
Eiscafé und wirkt so motiviert, als würde sie gerade heute ihren Job
antreten. In Wirklichkeit arbeitet sie seit acht Jahren hier, immer von Mai
bis Oktober, dann fährt sie nach Hause. In die Slowakei? Sie nuschelt, als
wollte sie die Frage nach ihrem Zuhause nicht beantworten. Lieber fragt sie
das alte Ehepaar nach den bevorzugten Eissorten, gibt Empfehlungen ab, und
weil die Entscheidung dauert, nimmt sie schon die Wünsche vom Nachbartisch
auf. Aus dem Augenwinkel hat sie registriert, wer bezahlen will, errechnet
murmelnd den Preis und kassiert mit der selben Zugewandtheit, die sie jetzt
zurückführt zu dem alten Ehepaar. „Sie haben sich entschieden? Gute Wahl!“
Sie ist durch und durch Profi. Man muss sie öfter erleben, um das immer
Gleiche in Stimme und Wortwahl zu hören.
Alle Gäste verabschiedet sie mit einem kichernden „Bis morgen“. Wer
tatsächlich regelmäßig einkehrt, fühlt sich gemeint und erkannt. Wer zum
ersten Mal hier Eis isst, fühlt sich zum Wiederkommen eingeladen. Bei mir
hat’s funktioniert.
An einem Tisch unterhalten sich Patienten der nahe gelegenen Reha-Klinik.
Um den Hals tragen sie ein Schlüsselband mit Herz-Logo. Einer erzählt vom
Vortrag „Mit der Krankheit leben“. Alle sollten sich vorstellen, wie sie
sich in drei Wochen, drei Monaten und in drei Jahren fühlen werden. „Eine
Scheißfrage.“ Morgens hatte der Arzt ihm eröffnet, seine Herzleistung
betrage noch 25 Prozent, einen vierten Infarkt würde er nicht überleben.
Für ihn hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Es zählt nur noch, wie er sich
heute fühlt. Heute. Ihm kommen die Tränen, er will gehen. Schon ist die
Bedienung mit der Rechnung da. Ihr „bis morgen“ klingt plötzlich wie
Fristverlängerung.
Claudia Ingenhoven
9 Oct 2024
## AUTOREN
Claudia Ingenhoven
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