# taz.de -- dvdesk: Lieben und anders begehren | |
Elena (Greta Grinevičiūtė) ist Tänzerin in Vilnius, Litauen, Anfang | |
dreißig. Sie hat keinen klassisch ballerinesken Körper, sie ist gegen | |
Widerstände, zuerst den er eigenen Mutter, zum Tanz gekommen. Sie agiert, | |
soweit man sieht, in kleineren, freien Produktionen, nur einmal erlebt man | |
sie bei einem Auftritt, sonst nur in dem Studio, in dem sie übt. Sie | |
verdient ihr Geld nicht zuletzt als Tanzlehrerin, etwa für eine Gruppe | |
jugendlicher Gehörloser. Diese bringt einen jungen Gebärdendolmetscher mit, | |
Dovydas (Kęstutis Cicėnas). In kurzen Szenen sieht man ihn den Text von | |
Liebesliedern gebärden, eine Sprache der Gesten, in der nicht nur die | |
Hände, in der der ganze Körper zum Teil des Ausdrucksakts wird. Dovydas hat | |
keine Lust mitzutanzen, aber in seinen Gebärden zeigt sich ein intimes | |
Verhältnis zum eigenen Körper, und eine Nähe zur Tanzlehrerin stellt sich | |
schnell her. Gemeinsame Spaziergänge, Gespräche, ganz normales | |
Liebesanbahnungsgeturtel, zum ersten Kuss fehlt nicht viel, ein letzter | |
Ruck, paar Zentimeter, da erklärt Dovydas, sehr abrupt: Ich bin asexuell. | |
In seinem Fall heißt das, wie man gesehen hat, nicht, dass er keine | |
romantischen Gefühle entwickelt (das gibt es bei Asexuellen in der Variante | |
aromantisch-asexuell auch), sie sind nur nicht mit sexuellem Begehren | |
verbunden. Elena dagegen, daran lässt Drehbuchautorin und Regisseurin | |
Marija Kavtaradze von Anfang an keinen Zweifel, will, mag, hat gerne Sex. | |
Was eher selten passiert: dass sie sich verliebt, Hals über Kopf. Das aber | |
ist ihr nun mit Dovydas widerfahren. So stehen die beiden im Verliebtsein | |
vereint, in der Frage des Begehrens getrennt vor einem Dilemma. Wie selbst | |
frisch verliebt, macht der Film in seiner ersten Stunde gar kein großes | |
Drama daraus. | |
Zwar gibt es einen ersten Schrecken und Abstoßungsschock. Dann aber | |
versuchen es Elena und Dovydas einfach miteinander. Sie teilen denselben | |
Humor, sie sind drinnen und draußen, in ihren Blicken und Gesten, ein | |
inniges Paar. In der schönsten Szene des Films sitzen die beiden an einem | |
kleinen Tisch im Café, er steht auf und sie beginnen, während er sich | |
entfernt und während sie sitzenbleibt, dennoch eine Art gemeinsamen Tanz, | |
ein Aufeinanderreagieren, ein Einanderspiegeln der Körper, sprachlos | |
sprechen die Hände, der Kopf, die Schulter, zu-, mit- und ineinander. | |
Überhaupt ist „Slow“ dann am schönsten, wenn er den Körpern das Feld | |
überlässt. Warm ist das Bild, nicht auf Schärfe, sondern materiale | |
Sinnlichkeit aus, Kavtaradze und ihr Kameramann Laurynas Bareisa haben auf | |
analogem 16-Millimeter-Material gedreht. Sie zeigen Elena und Dovydas auch | |
miteinander im Bett, wo die große Liebe ihre Schwierigkeiten hat, die nicht | |
minder große Asymmetrie des sexuellen Begehrens zu überwinden. | |
Viele Kommentare von Asexuellen zum Film (etwa auf der Filmplattform | |
Letterboxd) sind durchaus ambivalent, weil „Slow“ bei allem Bemühen um | |
Verständnis für die Ace-Identität zum einen dann halt doch wieder | |
cis-hetero ist (viele Spielarten der Asexualität sind das eben nicht) – und | |
zum anderen letztlich den Dilemma-Blick von der anderen, Elenas, Seite in | |
den Vordergrund rücke. Allerdings bleibt doch, für die beiden, für den | |
Film, für die Zuschauerin, die Schwierigkeit, ein gemeinsames Leben mit dem | |
so und nicht anders anderen Anderen zu führen, eine, die keine Schuldigen | |
hat und beide existenziell trifft und betrifft. Und es fragt sich, in | |
identitätspolitischer Grundsätzlichkeit, wie verkehrt es ist, im ganz | |
Spezifischen zugleich das sichtbar zu machen, was daran ohne Gleichmacherei | |
universalisierbar sein könnte. So ist „Slow“ ein Liebesfilm wie viele | |
andere. Und dann eben auch wieder nicht. | |
Ekkehard Knörer | |
19 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |