# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Ilo Toerkell: Wenn die Welt in den Adern… | |
Gehen wir?“ T. steckt den Kopf in mein Zimmer. Ich mache ein Geräusch, das | |
sich weder als Ja noch als Nein einordnen lässt, und ziehe mich an der | |
Bettkannte hoch. Mit T. kommt eine Welle frisch aufgetragenes Parfum rein. | |
„Du bist ja noch gar nicht angezogen,“ sagt T. ohne Vorwurf in der Stimme. | |
Ich inhaliere T.s vertrauten Geruch und streiche mir mit den Handflächen | |
über die Beine, wie um mich daran zu erinnern, dass sie zu mir gehören. | |
Draußen dröhnt ein Motorrad. Es ist Anfang September, die letzten | |
Sommertage. Das vielleicht letzte Mal vor ihrem Winterschlaf in der Garage | |
heulen die Motoren an unserem Fenster zur Straße vorbei. | |
Ich spüre die Nachtluft kaum auf meiner Haut. Keine Brise, keine Kälte, | |
keine brennende Hitze, die perfekte Temperatur eben. Wir schwingen uns auf | |
unsere Fahrräder. Meine kleinen Kopfhörer fangen den Lärm ab, und ich | |
genieße es, durch das beleuchtete Chaos der Oranienstraße zu fahren. Links | |
und rechts ziehen Bars, Restaurants und renovierte LED-beleuchtete Spätis | |
vorbei. Vor dem Hipsterladen stehen Grüppchen mit Aperol Spritz und | |
Zigarette in der Hand. Plateau-Sneaker, Low-Waist-Hosen, dicke | |
Silberketten, oder was auch immer dieses Jahr cool und edgy ist. Eine | |
Person lacht, den Kopf im Nacken. Ich halte an der Ampel, T. hinter mir. | |
Wie immer badet Hasir die Kreuzung an der Adalbertstraße in den Geruch von | |
gegrilltem Fleisch und Knoblauch. Gegenüber auf den Tischen vor der fast | |
rund um die Uhr geöffneten Bäckerei türmen sich kleine Berge mit | |
Sonnenblumenkernschalen. Der Gedanke an salzige Kerne zwischen den Zähnen | |
lässt mich reflexartig über die Lippen lecken. Noch bevor die Ampel von | |
Gelb auf Grün wechselt, rast ein Auto mit heruntergelassenen Fenstern | |
vorbei. Der Bass der Musik vibriert bis in meine Knochen. Vor dem SO36 | |
stehen Queers Schlange für irgendein Event. Aus dem Augenwinkel sehe ich | |
Schlüsselbünde an Karabinern von Gürtelschlaufen baumeln, Piercings, | |
Adidas-Hosen, Caps, Ansätze von Testo-Bärtchen auf Oberlippen. Ist das | |
nicht L.? | |
Fast verpasse ich unsere Ausfahrt. T. hupt mich an und wir kommen zum | |
Stehen. Ich lasse meinen Blick über die eng aneinanderstehenden Körper | |
schweifen. Ohne Kopfhörer bohrt sich der Geräuschpegel direkt in mein | |
Gehirn, der Geruch von Rauch und Alkohol beißend in der Nase. Mir bleibt | |
die Luft weg. „Komm!“ T. reißt mich aus der Starre und zieht mich in die | |
Menschenmenge. Ich schließe die Augen. Links und rechts spüre ich Körper an | |
meinen stoßen, höre T. sich entschuldigend den Weg zur Bar bahnen. Während | |
T. zwei alkoholfreie Bier bestellt und einen zusammengeknüllten Schein aus | |
der Hosentasche zieht, versuche ich die langsam aufsteigende Hitze in | |
meinem Körper zu bändigen. | |
Ich halte mich an dem kalten Bier und an T. fest. Meine Augen suchen | |
Komfort auf dem Boden, finden nur ausgelatschte Sneaker. Ich spüre, wie | |
meine Hand sich um T.s Arm verkrampft und der Lärm zu einem Tinnitus in | |
meinen Ohren anschwillt. Mein Herz rast auf einmal, unerträglich schnell | |
für meine festgefrorenen Glieder. Die Welt brennt in meinen Adern, und ich | |
frage mich, wessen Idee es noch einmal war, heute auszugehen und | |
rumzustehen? | |
„Hey“, sagt T. Wir sind draußen, ein paar Meter von der Menge entfernt. | |
Wann und wie wir rausgekommen sind, weiß ich nicht. „Wir müssen auch nicht | |
bleiben“, interpretiert T. mein Gesicht. Dann stellt T. unsere nur | |
halbleeren Flaschen auf einen Tisch. „Scheiß drauf. Wollen wir stattdessen | |
ein bisschen spazieren?“ Ich nicke und atme die Welt langsam aus. | |
Vielleicht bin ich einfach nicht dafür gemacht, auszugehen und rumzustehen, | |
denke ich später, als T. in der Dunkelheit des Kanalufers den Arm um mich | |
legt. | |
10 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Ilo Toerkell | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |