# taz.de -- dvdesk: Das Rohe und das Gekonnte | |
Filme werden, ob gut oder schlecht, wenn sie altern, immer stärker etwas, | |
das sie von vornherein sind: Dokumente ihrer Zeit. Das gilt sogar für allem | |
Realismus abholde Fiktionen. Und für Filme, die sich bewusst mit Gegenwart | |
tränken, gilt das natürlich erst recht. Zum Beispiel, und was für ein | |
Beispiel, für „Gibbi Westgermany“ von Christel Buschmann, 1979 entstanden, | |
damals kein großer Erfolg, dann sehr gründlich vergessen, aus der | |
Erinnerung fast gänzlich verschwunden, jetzt vom DVD-Gemischtwarenlabel | |
Filmjuwelen erstmals auf einem Heimmedium verfügbar gemacht. | |
Mit voller Wucht schlägt einem aus diesen Bildern, dieser Geschichte, | |
diesen Figuren, ihrer Sprache, ihrer Kleidung, die Zeit der Entstehung | |
entgegen. Der Plot ist nicht weiter komplex. Ein Mann Mitte dreißig, der | |
Titelheld namens Gibbi, verlässt ein Schiff und kehrt nach offenbar | |
längerer Zeit nach St. Pauli zurück. Er bezieht ein Zimmer in einem | |
schäbigen Hotel in Reeperbahnnähe, der Portier nuschelt auf Englisch herum | |
und ist immer mit irgendwelchen Hunden zugange, vielleicht weil er vom | |
Musiker Eric Burdon (The Animals!) gespielt wird. Es gibt ein Objekt der | |
Begierde für Gibbi, die Betreiberin eines Lokals gegenüber, Cafeteria steht | |
über der einen Seite der Theke und auf der anderen Crill, das Stück vom | |
„G“, das hier fehlt, hat keiner ersetzt. | |
Dieses Objekt der Begierde ist seine Mutter, man begreift es nicht gleich, | |
denn da rumort ein heftiges inzestuöses Begehren, das wie eigentlich alles | |
in diesem Film nicht weiter erklärt, sondern einfach so in den Raum | |
gestellt wird. Gespielt wird die Mutter übrigens von [1][Eva-Maria Hagen], | |
sie hatte zwei Jahre zuvor die DDR, in der sie ein Star war, verlassen | |
müssen und fasste nun langsam im Westgermany-Film-, Theater- und | |
Musikbetrieb Fuß. | |
Der interessanten Besetzung damit noch nicht genug. Als Gibbi seine Tochter | |
und deren Mutter besucht, sitzt als neuer Mann der Künstler Martin | |
Kippenberger auf der Terrasse im ausgesprochen bürgerlichen | |
Vorstadt-Ambiente. Außerdem läuft mehrfach der in kleinen Kreisen etwas | |
berühmte, [2][kürzlich verstorbene Songwriter und Dichter Kiev Stingl] | |
durchs Bild; der vor allem für seine „Tatorte“ bekannte Regisseur Hans | |
Noever spielt einen Arzt in der Psychiatrie. Dorthin wird Gibbi nämlich | |
nach mehreren heftigen Aussetzern verfrachtet. | |
Der Darsteller von Gibbi ist Jörg Pfennigwerth, als Schauspieler denkbar | |
ungeschliffen, aber eher kein Diamant. Sehr männlich, sehr markante Züge, | |
die Jacke gern offen, beim Blick in den Spiegel – das ist eine der | |
komischeren Szenen des Films – von sich selbst hellauf begeistert. | |
Ungehobelt, verletzend und verletzlich, Sprache: heftig Hamburgerisch, | |
füllt er die Räume, die er betritt, mit Negativenergie. Alkohol, Drogen, | |
Gewalt, alles im Spiel, ohne dass der Film eine Milieustudie ist. Er will | |
auf gar kein Genre hinaus, das allerdings teils hoch elegant, was sich | |
nicht zuletzt den eleganten Bewegungen und Lichtsetzungen des brillanten | |
Kameramanns Frank Brühne verdankt. | |
Das Rohe und das Gekonnte schließen sich in „Gibbi Westgermany“ also | |
keineswegs aus. Das Ungefällige ist Teil der durchaus stilisierten | |
Ästhetik. Die Figuren sind so unfertig, dass man mit ihnen ringt, ist | |
gewollt. Christel Buschmann wusste stets, was sie tat, hatte an einer | |
Dissertation über die Sprache bei Arno Schmidt gearbeitet, war | |
Literaturkritikerin für die Zeit und konkret, schlug sich auf eigenen Wegen | |
als selbstbewusste Randgängerin durch den Journalismus-, Literatur-, Film- | |
und Fernsehbetrieb. Sie ist jetzt über achtzig, Ende August erscheint im | |
März-Verlag ihr erster Roman, „Ein glühend heißer Nachmittag“. Kurzum: | |
Höchste Zeit zur (Wieder-)Entdeckung. | |
Ekkehard Knörer | |
15 Aug 2024 | |
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