# taz.de -- Anfield am Bosporus | |
> Der FC Liverpool vollbringt das Fußballwunder, gegen den AC Mailand ein | |
> 0:3 auszugleichen, und wird dafür im Elfmeterschießen mit dem Gewinn der | |
> Champions League belohnt | |
AUS ISTANBUL TOBIAS SCHÄCHTER | |
Andrej Schewtschenko war einer der wenigen, die auf dem Weg in den Bus doch | |
noch Halt machten. Als seine großen Rehaugen in die Fernsehkameras | |
blickten, schimmerte in ihnen die ganze bittere Traurigkeit dieses | |
verdammten Abends. „Ich werde nie begreifen, wie er diesen Ball hat halten | |
können“, flüsterte Europas Fußballer des Jahres in die Mikrofone und ließ | |
dabei den Kopf auf seine rechte Schulter fallen. Das Gefühl der Ohnmacht | |
überkam den Ukrainer in Diensten des AC Mailand aber nicht wegen seines | |
verschossenen Penaltys im finalen Elfmeterschießen. Der Liverpooler | |
Torhüter Jerzy Dudek hatte diesen pariert und damit dieses unvergessliche | |
Champions-League-Finale von Istanbul zugunsten des FC Liverpool | |
entschieden. Doch Schewtschenko, der beim Endspiel vor zwei Jahren gegen | |
Juventus Turin noch den entscheidenden Elfer verwandelt hatte, meinte | |
vielmehr jene verrückte Szene, die sich drei Minuten vor dem Ende der | |
Verlängerung zugetragen hatte. Es war der Moment, in dem unwiederbringlich | |
alles verloren schien für die „Scouser“. In ihm wehrte Dudek einen Kopfball | |
Schewtschenkos aus kürzester Distanz ab, anschließend lenkte er, bereits am | |
Boden liegend, mit einer reflexartigen Armbewegung auch noch den Nachschuss | |
des Ukrainers aus einem Meter Entfernung über die Latte. Es wird wohl auf | |
ewig ein Rätsel bleiben, wie Dudek dieses Wunder vollbrachte. Der Keeper | |
selbst konnte es sich nur mit höherem Beistand erklären. „Irgendwer da oben | |
hat uns gerettet“, sagte Dudek später. | |
Für manche Dinge im Leben gibt es einfach keine Erklärungen. Sie brechen | |
über die Menschen herein und lassen sie ratlos zurück. Und vielleicht weil | |
Dudek Pole ist, schrieb er das Unerklärbare Gott zu. Wie auch immer: Der | |
Champions-League-Sieger 2005 heißt FC Liverpool – und alleine dieser Fakt | |
erscheint in der Nachbetrachtung unglaublich. Die Dramaturgie dieses | |
elektrisierenden 6:5 nach Elfmeterschießen gegen den AC Mailand erhob das | |
Spiel bereits mit dem Schlusspfiff zur Legende. Dass die Engländer einen | |
hoffnungslos erscheinenden 0:3-Rückstand zur Pause im zweiten Durchgang in | |
nur sechs Minuten zum 3:3 drehten, ist eine der spektakulärsten Volten in | |
der Geschichte großer Fußballspiele. „Sechs Minuten des Wahnsinns“, nannte | |
Milan Trainer Carlo Ancelotti die Phase zwischen der 54. und der 60. | |
Minute, die den Lombarden wie ein Tsunami am Bosporus vorkommen musste – | |
und Milan zerstört zurückließ. So zerstört fühlten sich zuletzt vielleicht | |
die Bayern, als sie vor sechs Jahren beim Finale von Barcelona zusehen | |
mussten, wie Manchester in den letzten Sekunden ein 0:1 in ein 2:1 | |
verwandelte. Doch wann hat es je eine Mannschaft vermocht, ein 0:3 gegen | |
diesen AC Mailand aufzuholen, gegen Cafu, Nesta, Stam und Maldini – die | |
beste Abwehrreihe der Welt? Wie ist so etwas möglich? | |
Dass die Liverpooler Spieler dieses Wunder ihrem Trainer Rafael Benitez | |
zuschrieben, strickt zwar weiter an der Legende des Spaniers, der sich mit | |
diesem sensationellen Triumph in seinem ersten Jahr an der Anfield Road in | |
die Ahnenreihe der legendären Trainer an der Mersey einschreiben konnte, | |
ganz der Wahrheit aber entspricht es nicht. „Wenn wir ein frühes Tor | |
schießen, ist vielleicht noch etwas drin“, hatte Benitez seinen Spielern in | |
der Halbzeit mit auf den Weg gegeben. Er wechselte mit Dietmar Hamann einen | |
zusätzlichen Mittelfeldspieler ein, stellte die Viererabwehrkette auf eine | |
Dreierkette um und beorderte den auf der defensiveren Hamann-Position | |
spielenden Steven Gerrard weiter nach vorne. In Wahrheit waren diese | |
Umstellungen eher von der Angst vor einem Debakel beseelt als von der | |
Hoffnung auf eine Wende. So gab Didi Hamann, erneut großer Stratege, | |
unumwunden zu, mit gemischten Gefühlen auf den Platz gegangen zu sein. „Es | |
ging um Schadensbegrenzung“, sagte der Bayer, und ähnlich dürften das auch | |
die 35.000 mitgereisten Liverpool-Fans empfunden haben. Als ihre Mannschaft | |
zum zweiten Mal aus der Kabine kam, sangen sie trotzig ihr „You’ll never | |
walk alone“ – und es klang in diesem Moment, als wollten sie einem längst | |
angeknockten Boxer, der sich in der Gewichtsklasse geirrt hatte, den | |
letzten Trost spenden. | |
Denn ausgerechnet der Meister der Taktik, Rafael Benitez, hatte die falsche | |
Aufstellung gewählt, als er in Durchgang eins Kewell statt Hamann hatte | |
spielen lassen. Paolo Maldini (nach 52 Sekunden) und zweimal Hernan Crespo | |
(39./44.) münzten die Überlegenheit des Favoriten gegen den von | |
haarsträubender Nervosität und schier grenzenloser Unordnung geplagten | |
Herausforderer in Tore um. Vor allem Crespo wollte „die Reds“ büßen lasse… | |
weil die seinen letztjährigen Verein, Chelsea London, mit dem er in | |
Istanbul gerne eine Rechnung beglichen hätte, im Halbfinale eliminiert | |
hatten. Er schien zu triumphieren. | |
Dann begannen die 6 Minuten, die für Milan zum Inferno werden sollten: | |
Durch Gerrards 1:3 (54.) aus heiterem Himmel verwandelte sich Liverpool in | |
ein aggressives englisches Premier-League-Team, das mit offenem Visier zu | |
kämpfen gewohnt ist. Es war dieses Tor, das alles veränderte. Getragen von | |
den Fans, die das ansonsten so kühle Atatürk-Stadion in ein Stück Anfield | |
verwandelten, trafen nun wie im Rausch auch noch Smicer (56.) und Alonso | |
(60.), der einen Elfmeter im Nachschuss zum Ausgleich nutzte. | |
„Die Zuschauer tragen mit den größten Anteil heute“, fand Benitez später… | |
Recht. Und wie seine Mannschaft, so wühlte sich auch der Trainer zurück ins | |
Spiel und bewahrte seine von Krämpfen geplagte Elf am Ende mit einem | |
genialen Schachzug vor dem K.O.: Als Serginho, der brasilianische | |
Flankengott, in der 85. Minute zusammen mit dem kopfballstarken Tomasson | |
eingewechselt wurde, stellte Benitez Gerrard als rechten Verteidiger | |
dagegen. Gerrard blockte jede Flanke des Brasilianers, Tomasson kam erst | |
gar nicht zum Köpfen. Der Rest war gut 30 Spielminuten später Jerzy Dudek – | |
und ist schon heute Legende. | |
27 May 2005 | |
## AUTOREN | |
TOBIAS SCHÄCHTER | |
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