# taz.de -- berliner szenen: Der Einzige, der fühlt und handelt | |
Als ich meine Joggingrunde durch den Park an der U-Bahnstation Rathaus | |
Schöneberg beendete, sah ich wieder den Jungen, der dort gelegentlich in | |
ein Plastikmikrofon singt. Vor ihm stand ein Hut für Spenden. Daneben saß | |
wie jedes Mal, wenn ich den Jungen sah, sein Vater oder sein Betreuer in | |
dem Fahrradanhänger des Jungen und las auf seinem Ipad Zeitung. Der Junge | |
hat eine geistige Beeinträchtigung. Es hält ihn nicht davon ab, mit voller | |
Leidenschaft ins Mikrofon zu singen, dass er die Töne nicht immer richtig | |
trifft. | |
Dort, wo der Junge an diesem Nachmittag performte, saßen Senioren still und | |
schweigend auf den Bänken, standen Jugendliche mit Energydrinks und redeten | |
laut, saß der Vater oder der Betreuer seelenruhig im Fahrradanhänger und | |
las Zeitung, machte ich Dehnübungen am Zaun. Ich sah gerade zum Jungen, als | |
genau auf seiner Höhe ein Mädchen mit seinem Fahrrad in das der Mutter | |
fuhr. Beide fielen hin. Keiner der Anwesenden regte sich – nicht die | |
Senioren, die stillschweigend auf den Bänken saßen, nicht die Jugendlichen, | |
die sich unterhielten, nicht der Vater oder der Betreuer, der auf seinem | |
Ipad seelenruhig Zeitung las, nicht ich, die sich gerade dehnte. | |
Nur der Junge hörte auf zu singen und lief ein paar Schritte in Richtung | |
der Mutter und der Tochter, die inzwischen schon wieder auf den Beinen | |
waren. Der Junge fragte: „Ist alles in Ordnung?“ Die Mutter schaute perplex | |
zum Jungen und antwortete: „Ja, es ist alles in Ordnung. Vielen Dank der | |
Nachfrage!“ Dann schaute sie kurz zu den alten Leuten auf den Bänken, sie | |
schaute kurz zu den Jugendlichen mit den Drinks und sie schaute kurz zu | |
mir. Ich schämte mich etwas und blickte zum Jungen, der wieder zu singen | |
begann. Hätte ich Geld dabeigehabt, hätte ich ihm für diesen Auftritt | |
definitiv etwas gegeben. Eva Müller-Foell | |
1 Jul 2024 | |
## AUTOREN | |
Eva Müller-Foell | |
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