# taz.de -- Uli Hannemann Liebling der Massen: Hier außen hui und innen pfui, … | |
Mein weltweit größtes Idol ist im Grunde mein Zahnarzt, der mit dem Rücken | |
zur Wand des irdisch Machbaren heldenhaft um meine Zähne kämpft. Denn die | |
sind buchstäblich Brückenköpfe, die um keinen Preis fallen dürfen: Wo die | |
Basis verloren geht, um erst Kronen und dann Brücken zu verankern, gerät | |
der ganze Müll haltlos ins Rutschen, und irgendwann entlarvt sich das über | |
Jahre mühsam in ein Gleichgewicht des Schreckens tarierte Gebiss als | |
unhaltbares Lügenkonstrukt. | |
Es geht auch anders. Erst kürzlich habe ich ein aktuelles Bild von [1][Iggy | |
Pop] gesehen: eine Fresse, eine Haut, einen Körper wie ein fünf Jahre im | |
Keller vergessener Schrumpelapfel von so einer uralten Wildsorte, die man | |
aus guten Gründen nicht mehr anbaut, jedoch wahnsinnig gute Zähne – | |
morgens, mittags, abends Aronal und Elmex. Ich bin praktisch ein Negativ | |
von Iggy Pop, mit meiner einerseits apollinisch ebenmäßigen Supraästhetik, | |
doch dafür eben krass beschissenen Zähnen. Wir zwei, Iggy und ich, Icke und | |
Icky. Hier außen hui und innen pfui, da umgekehrt. | |
Einmal hat mein Zahnarzt einen wunderschönen Satz gesagt. Der Kontext war | |
folgender: Ich hatte damals Probleme mit einer Altlast seines Vorgängers. | |
Unter einem eigentlich längst wurzelgetöteten und überkronten Zahn, | |
rottete, in zugegebenermaßen tückisch verwinkelten Wurzelkanalenden, der | |
Pfusch noch leise vor sich hin. In diese tiefsitzende Entzündung hinein | |
musste der Neue nun mühsam nacharbeiten, um hoffentlich den Rest der | |
Zahnsubstanz zu erhalten. | |
Zu Beginn jeder Sitzung wurde die Stelle ausgiebig betäubt. Doch für die | |
spezielle Komplikation noch nicht gründlich genug. Der Restnerv grüßte aus | |
der Hölle und ließ mich leise jodeln. Mein Zahnarzt ist zum Glück nicht so | |
ein Fakirtyp, sonst würde ich da auch nicht mehr hingehen. Ich kotze | |
nämlich schon, wenn ich nur die einschlägigen deutschen Redensarten höre: | |
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Schnauze, du Sau“, und „Was dich | |
umbringt, macht mich stärker“. Was soll das denn, sind wir im Krieg oder | |
bin ich [2][Reinhold Messner]? | |
Dabei ist die Sache doch so einfach. Der Patient schreit und weint, | |
zappelt, zittert und schlägt um sich. Ein seriöses Arbeiten wird dem | |
Zahnarzt dadurch deutlich erschwert. Wozu also Folterknecht spielen, es sei | |
denn, es handelte sich um einen sadistischen Verbrecher, dem es teuflisches | |
Vergnügen bereitet, Menschen, Tieren oder Pflanzen Schmerzen zuzufügen. | |
Doch zum Glück ist mein Zahnarzt kein solcher Unhold. Großzügig legte er | |
nach, im Dienste des Patienten und der Menschlichkeit. Immer noch Aua. | |
Nächste Spritze. Warten. Aua. Und dann kam der Satz: „So jetzt reicht’s, | |
Herr Hannemann, ich spritz Sie jetzt tot!“ | |
Genau mein Humor. Zufrieden schmunzelnd lehnte ich mich zurück. Keine | |
Schmerzen, keine Angst, stattdessen nichts als warme Geborgenheit. „Herr | |
Hannemann, ich spritz Sie jetzt tot“, hatte für mich in dem Moment | |
denselben zarten Klang, wie „Der Kaffee ist fertig“, „Alles wird gut“, … | |
„Magst du noch ein Schokoladenbärchen aus dem Schokoladenbärchenbus?“. | |
Im Nachhinein bewundere ich ihn für sein Fingerspitzengefühl. Denn gerade | |
gegenüber Fremden braucht man schon ein verdammt gutes Gespür dafür, | |
welcher Spruch geht und welcher nicht. Schließlich befinden wir uns gerade | |
mitten in der „Eulenspiegelzeit“, einer Epoche des Alles-wörtlich-Nehmens. | |
Egal, ob aus vorgespielter Opferpose oder wirklicher Not würde sich | |
garantiert wieder irgendein Patient getriggert fühlen und empören. Der | |
jahrelange Mordprozess führt am Ende mindestens zum Entzug der Approbation. | |
Wer da noch einen Witz riskiert, hat meinen vollsten Respekt. | |
23 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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