# taz.de -- taz🐾thema: Die neuen Künste | |
> Schluckauf, Rülpsen, explosives Furzen: An Ampelkreuzungen lassen sich | |
> zwischen wartenden Autos bisher gänzlich unbekannte Performancegattungen | |
> beobachten, die einem verstaubten Genre neuen Wind einhauchen | |
Bild: Ist Barney von den Simpsons der erste echte Hick-up Artist und Fartist ge… | |
Von Uli Hannemann | |
Endlich sind die herkömmlichen Kunstformen auf dem Rückzug. Eine halbe | |
Ewigkeit lang hat man uns mit dem drögen Kram zugeschissen, bis uns vor | |
Überdruss die Augen tränten: von verwitterten Höhlenstrichmännchen über die | |
rechtsklerikale Sittenpropaganda der Alten Meister, nervenzerfetzende | |
Katzenmusik, sterbenslangweilige Literatur, didaktische Mumblecore-Filme | |
und törichtes Tanztheater bis hin zu einer beliebigen Performancekunst, die | |
praktisch alles beinhalten kann, ob das Bügeln von Brotscheiben, Zersägen | |
tiefgefrorener Eichhörnchenkadaver oder Einwickeln von Klohäuschen in | |
Geschenkpapier. | |
Doch zum Glück gibt es heute jede Menge erfrischender neuer Künste, die | |
unter dem Eindruck des nahenden Weltuntergangs dynamisch ihre | |
schnelllebigen Blüten entfalten. Denn wer hat schon noch die Muße für einen | |
tausendseitigen Schinken oder den Besuch einer Gemäldegalerie, wenn draußen | |
bereits radioaktive Sandstürme an den Fensterläden rütteln. | |
Da wären in erster Linie die Hick-up Artists zu nennen, deren Kunst man | |
inzwischen nicht mehr nur auf Youtube oder Tiktok bewundern kann, sondern | |
längst auch in der „Tagesschau“. Die Kunsthickser sind Teil einer neuen, | |
unkorrumpierten Künstlergeneration, die Kunst nur um ihrer selbst willen | |
betreibt und dafür größte Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt. Viele von uns | |
machen sich vollkommen falsche Vorstellungen, gerade auch von den Anfängen | |
eines Künstlerlebens: Lange schlafen, gut essen, kreativ sein unter | |
ständigem Drogeneinfluss, eine Riesenauswahl an attraktivsten | |
Sexualpartnern und Stipendien in der Toskana bis zum Abwinken. | |
Aber von wegen! Es ist eine harte Schule. So ist es nicht ungewöhnlich, | |
dass sich Hick-upper ihr Studium an der Hickshochschule damit verdienen, | |
während der Rotphasen die an den Ampelkreuzungen wartenden Autofahrer mit | |
ihrem Kunstschluckauf zu unterhalten. Immerhin hat das Stahlbad | |
Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen. Das Einüben | |
neuer Techniken unter schwierigsten Bedingungen – das Wetter, der Geiz, der | |
Spott und die Ignoranz der ungeduldigen Verkehrsteilnehmer – ist auch ein | |
Lackmustest für die Belastungsfähigkeit, denn der Weg in die großen | |
Mehrzweckhallen unserer Metropolen ist alles andere als mit Rosenblättern | |
gepflastert. Die allerwenigsten Hick-up Artists werden es auf den Olymp der | |
Konzeptkunst schaffen. Die Auslese ist gnadenlos, Ruhm und Reichtum winken | |
nur den Besten und Beharrlichsten. | |
Nicht jeder hat nun mal das Zeug zum Star. Außer dem Talent sind die | |
Grundvoraussetzungen auch ein unbändiger Willen und vor allem eiserne | |
Disziplin. Neben einer strengen Diät aus kohlensäurehaltigen Getränken und | |
scharfen Spirituosen muss über Jahre hinweg das Zwerchfell so trainiert | |
werden, dass der Körper auf Kommando Hick-ups produziert. Durch die | |
permanenten Kontraktionen ist das Zwerchfell eines Hick-up Artists ähnlich | |
ausgebildet wie bei Kraftsportlern der Bizeps. Der Anblick der markanten, | |
rettungsringartigen Auswölbungen im Bereich des untersten Rippenbogens | |
fällt Besuchern einer klassischen Hick-up-Symphonie stets schon vor dem | |
ersten Ton ins Auge. | |
Die Hick-up-Kunst entwickelte sich übrigens aus der raueren, schlichteren, | |
doch in den Augen ihrer Liebhaber auch reineren und ursprünglicheren Burp | |
Art. Die Rülpskunst ist die primitive große Schwester des Schluckaufs – das | |
Verhältnis der beiden zueinander ist vergleichbar dem zwischen | |
mittelalterlicher Schalmei und moderner Klarinette, zwischen Anstreicher | |
und Kunstmaler, Orang-Utan und Homo sapiens. | |
Eines Tages muss so einem Rülpser am königlichen Hof ein erster, | |
rudimentärer Schluckauf entwichen sein. Dieser erste Hick-up Artist wurde | |
wahrscheinlich auf der Stelle geköpft, weil die Zeit für seine Kunst noch | |
nicht reif war. Man war Rülpser gewohnt und wollte Rülpser hören. Das galt | |
als treffliche Gaukelei, alles Neue hingegen als Teufelswerk (Galilei lässt | |
grüßen!). Doch seine Nachfolger verfeinerten in Kellern und | |
Branntweinschenken heimlich die Schluckaufkunst; diese schneidigen Burschen | |
waren für das einfache Volk Helden im Widerstand gegen die Obrigkeit. | |
Von solchen Anfängen ist auch jetzt noch einiges zu spüren. Denn ob Hicksen | |
oder Rülpsen: Gute Kunst ist immer auch politisch. Speziell unter dem Druck | |
totalitärer Regimes entpuppt sie oftmals ihren subversiven Charakter. So | |
mag ein außergewöhnlich raffinierter Schluckauf Außenstehenden bloß als | |
schöngeistiger Zeitvertreib erscheinen, während die Unterdrückten ihm eine | |
codierte Warnung vor Geheimpolizei oder Religionswächtern entnehmen, und | |
die verästelte Melodie eines Kunstrülpsers könnte Eingeweihten den Weg zu | |
einem konspirativen Treffpunkt weisen. | |
Heute ist vor allem Berlin ein Eldorado für die vielen jungen Hick-up | |
Artists aus aller Welt. Hier fanden sie zunächst ideale Bedingungen vor, | |
Wohnraum und Kohlensäure waren billig, hier wehte noch ein echter | |
Pioniergeist. Doch leider wird es nun auch in der deutschen Hauptstadt | |
enger in den Häusern, Straßen und auch in den Herzen. Hick-upper müssen | |
sich die raren Spots für die Straßenkunst mit Fartists und Throw-up | |
Artists, sprich Kunstfurzern und Kunstkotzern, teilen; beides ausgerechnet | |
Spezialisten, die relativ viel Ruhe, Achtsamkeit und Space benötigen, um | |
sich auf ihr diffiziles Metier konzentrieren und angemessen entfalten zu | |
können. Besonders die haptische Throw-up Art lappt schließlich weit in den | |
Bereich der bildenden Kunst hinein und benötigt entsprechend Raum, um die | |
für sie typischen ambulanten Exponate zu präsentieren. Die explosive | |
Furzkunst wiederum ist für Publikum wie Ausführende ohne den nötigen | |
Sicherheitsabstand bekanntermaßen nicht ganz ungefährlich. | |
So braucht man sich über die chaotischen Zustände nicht zu wundern, wenn | |
sich hundert verzweifelte Kunstschaffende laut hicksend, furzend und sauer | |
aufstoßend auch noch bei grünem Ampellicht mitten auf der Kreuzung um den | |
Standplatz prügeln. Natürlich behindert das den Verkehr, doch wünschte man | |
sich mehr Verständnis von den Autofahrenden. Ohnehin wäre ein aus dem | |
Wagenfenster gereichtes Zweieurostück der ungestörten Fortsetzung ihres | |
Wegs weitaus dienlicher als feindseliges Gezeter. Auch ein Mehr an | |
Kulturförderung vom Bund würde die unhaltbare Lage garantiert entspannen. | |
Das sollten uns unsere Nachwuchskünstler wirklich wert sein. | |
25 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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