# taz.de -- Trend oder Tradwife: Der Aufstieg des Sauerteigs | |
> Die Studentin Charlotte R. fing eines Tages an, ihr Brot selbst zu | |
> backen. Reaktionärer Backlash oder Erweiterung des | |
> emanzipatorisch-selbstbestimmten Lebenstil-Portfolios? Ein Besuch in der | |
> Küche. | |
Bild: Auch der komplementäre Espresso muss natürlich per Hand gemahlen und ge… | |
[1][taz FUTURZWEI] | Als Charlotte R. eines Morgens aufwachte, spürte sie | |
das dringende Bedürfnis, Brot zu backen. Sie duschte, zog sich an, ging in | |
die Küche und buk das erste Brot ihres Lebens. Das war vor zwei Monaten. | |
Seltsam, oder? | |
Ein Dienstag, 18:19 Uhr. Charlotte R. öffnet mir die Tür. Sie ist 24 Jahre | |
alt, studiert Psychologie im Master in Essen, ist blond mit blauen Augen | |
und so hübsch, dass man sich unweigerlich vergleichen müsste – wäre man | |
keine Feministin. Eine Schürze trägt sie noch nicht, aber sie hat seit | |
jenem Morgen einen ganz besonderen Mitbewohner in ihrem Leben: den | |
Sauerteig. In ihrem Zimmer steht er, unter einem Plakat in Solidarität mit | |
Frauen aus dem Iran, direkt neben ihrem Bett. Genauer gesagt, steht er da | |
nicht, sondern er „geht“ gerade. | |
„Das mag er, da ist es am wärmsten“, sagt Charlotte R. und trägt die | |
silberne Schüssel sorgsam mit beiden Händen in die Küche. Genauso wie die | |
koreanische Hautpflege und die Lektüre von Das andere Geschlecht gehört das | |
zu ihrer Abendroutine. Sie knetet den Teig, was im Fachjargon „falten“ | |
heißt, streut Mehl darüber, ritzt ein Muster hinein und setzt den Teig | |
vorsichtig in ihren neuen Dutch Oven, einen gusseisernen Topf, den sie in | |
den Ofen stellt. | |
## Madonna der gesellschaftspolitisch Konservativen | |
20 Minuten bei 250 Grad mit Deckel, dann 30 Minuten bei 235 Grad und 10 | |
Minuten ohne Deckel. Wenn ein Brot im Ofen ist, setzt Charlotte R. direkt | |
das nächste an. Sie holt ihren Bakterien-Organismus aus dem Kühlschrank. | |
Der sogenannte Starter braucht seinen Menschen. „An Weihnachten habe ich | |
ihn sogar mit zu meinen Eltern genommen“, kichert sie. Einmal die Woche | |
muss er gefüttert werden. Ein überschaubarer Aufwand, weniger als ein Welpe | |
oder Tamagotchi. Charlotte R. nimmt einen Esslöffel aus dem Glas mit dem | |
glibberigen Inhalt voller Bläschen. „15 Gramm“ sagt sie und mischt das Zeug | |
mit Wasser. Nach genauen Vorschriften kommen Mehl und Salz hinzu. Dann | |
knetet sie den Teig. | |
Wie wird eine Psychologiestudentin zur Brotbäckerin? Etwas unromantisch | |
könnte man sagen: Der Algorithmus hat sie dazu gebracht. Vor allem ein | |
super berühmter Account. Es ist, alle Brotbäckerinnen kennen ihn, Ballerina | |
Farm. 8,5 Millionen Follower auf Instagram. Hannah Neeleman, 33, lebt mit | |
Mann und acht (eigenen) Kindern auf einer Farm in Utah und macht dort sogar | |
Butter und Ricotta selbst. In einem Video spricht sie mit beiden Armen im | |
Sauerteig davon, dass „sich gerade junge Menschen nach dieser Verbindung | |
sehnen“. Über diese moderne Madonna der gesellschaftspolitisch | |
Konservativen, jüngst in hochschwangerem Zustand in Las Vegas zur „Mrs. | |
American gewählt“, gäbe es viel zu sagen, aber hier ist entscheidend, dass | |
Charlotte R. jetzt diese Zufriedenheit spürt, dank ihr. | |
Gerade holt sie das Brot aus dem Backofen und begutachtet es. Es ist groß | |
und rund. Sie lächelt. Charlotte R. holt ihr Handy raus. Der Algorithmus | |
wirft ihr mittlerweile nur noch Sauerteig-Videos zu. Viele von diesen | |
Brotbäckerinnen nennt das Internet „Tradwives“, traditionelle Hausfrauen, | |
die ihren Männern dienen wollen, dem Staat nicht vertrauen und sehr | |
religiös sind. Die „Domestifzierungsbubble“ nennt Charlotte R. es, während | |
sie durch die Videos scrollt. Eine Frau steht in der Küche. | |
Bildunterschrift: „Wenn dich der weibliche Drang überkommt, deinen Job zu | |
kündigen und zu Hause zu bleiben.“ Charlotte R. muss lachen. Sie sieht das | |
nicht, dass der Sauerteig ihre Hausfrauisierung auslösen könnte. Selbst | |
Ballerina-Farm-Hannah sei eigentlich eine knallharte Unternehmerin mit | |
einem Ofen, der mehrere 10.000 Euro koste und hat einem Milliardär als | |
Schwiegervater. | |
## Hobby, Liebe und Instrumentalisierung | |
Am selben Tag, nur drei Stunden früher, sitzt Ilka N. an ihrem schönen | |
alten Holzküchentisch. Sie ist 55, und wenn man zu Klischees neigt, dann | |
ist sie vermutlich so gekleidet und auch sonst so, wie man sich eine | |
richtig gute Mutter vorstellt. Von Tradwives hat sie noch nichts gehört. | |
Ach, trendy? Der Sauerteig sei doch nichts Neues. Sie backt seit 2019 ihr | |
Brot. Man munkle, Jesus Christus sei schon in seinen Genuss gekommen. Dass | |
junge Menschen neuerdings darauf stehen, war ihr aber schon vor diesem | |
Besuch klar. Bei einer Techno-Party ihres Sohnes hatten sich die jungen | |
Menschen um ihren Starter gerissen. Eine Verwandlung von emanzipierten | |
Frauen in kleine Hausmuttis sieht auch Ilka N. nicht. Sie backt, weil es | |
ihr Spaß macht. „Ich habe kein emotionales Verhältnis zu meinem Sauerteig�… | |
sagt sie und streicht tatsächlich eher sachlich über eines ihrer Gläser, | |
während Charlotte R. ihren Starter sehr liebevoll zu streicheln pflegt. | |
Brot backen sei ein Hobby für alle Sinne. Außerdem würden die Zeiten | |
härter. Die Probleme der Welt kämen dem eigenen Leben immer näher. Klima, | |
Kriege, Zukunftsunsicherheit: „Brot zu backen, ist da ein toller | |
Ausgleich“, sagt sie. | |
Das sind jetzt noch keine wissenschaftlich verwertbaren Daten, aber | |
lebensempirisch kommt es einem so vor, als würde die Zahl der Brotbackenden | |
rapide zunehmen. Selbst die Unternehmerin Ute K. aus Berlin lief unlängst | |
mit einem seltsam flachen Brot durch ihre Wohnung und rief ganz | |
unglücklich: „Mein Sauerteig ist irgendwie beleidigt. Ich glaube, ich habe | |
ihn nicht sanft genug behandelt.“ | |
Jetzt darf man sich keine Illusionen darüber machen, dass es Mächte gibt, | |
die den Sauerteig dafür instrumentalisieren wollen, um Frauen zurück an den | |
Herd zu treiben. Aber unserer Psychologiestudentin Charlotte R. kann man | |
getrost zutrauen, nicht dem Patriarchat zu verfallen, jedenfalls nicht | |
durch Brotbacken. Gerade holt sie ein weiteres Brot aus dem Ofen. Sie | |
strahlt. Und das Brot sieht auch aus, als würde es lachen. | |
Die Liebe des Algorithmus zu Hausfrauen mag reaktionär sein, aber ein | |
Sauerteig ist es nicht. | |
Dieser Beitrag ist im Original in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 | |
erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt | |
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7 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Paulina Unfried | |
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