# taz.de -- Eine Materialsammlung | |
> Der Kulturwissenschaftler Tom Holert hat mit seinem Coffeetable-Book | |
> überzeugend den Zeit-Raum um 1972 vermessen | |
Von Jens Kastner | |
Es war eigentlich kein besonderes Jahr. 1972 war auf keinen Fall „the year | |
that rocked the world“ (Mark Kurlansky über 1968) und hatte auch sonst | |
nicht viel von dem Einschnitthaften, das jene Art von Jahreszahlbiografien | |
hervorgebracht hat, die in den letzten Jahren von Florian Illies’ Buch über | |
1913 bis hin zu den Büchern von Philipp Sarasin (zu 1977) und Frank Bösch | |
(zu 1979) den Sachbuchmarkt bereicherten. | |
Der Kulturwissenschaftler Tom Holert dehnt das Jahr ins Ungefähre aus, „ca. | |
1972“ heißt sein Buch, und das versteht er als eine Studie über einen | |
globalen Zeit-Raum. Insofern ist es auch nur konsequent, dass Holerts Band | |
nicht zum Jubiläum 2022 erschienen ist, sondern einfach so im Zeitraum | |
danach. | |
Es ist eine Ära voller Umschlagsmomente und Kipppunkte: Die revolutionären | |
Hoffnungen der Jahre zuvor scheinen zu leeren Gesten oder zu | |
institutionalisierten Routinen verkommen. Zugleich bahnt sich eine neue | |
Konnektivität an: Globale Verbindungen von Formen der Militanz, Theorien | |
der Emanzipation und ästhetischen wie politischen Strategien werden | |
praktiziert und treten in die Öffentlichkeit. Es ist ein an Quellen und | |
Bildmaterialien überbordendes Kompendium verschiedener „Wege, Routen, | |
Schnittstellen“, die das Buch durchstreift und damit die beschriebenen | |
Aktionen, Schriften und Sachverhalte erst zueinander in Beziehung setzt. | |
Die künstlerische Kritik an geopolitischen Machtverhältnissen trifft dabei | |
auf die Diskurse und Praktiken indigener Selbstbestimmung von Ecuador bis | |
Australien, der genderpolitische Aufbruch wird mit häretischen Marxismen | |
und der aufkommenden Ökologiebewegung kurzgeschlossen. Das Buch besticht | |
durch die Mischung aus genauen Bildbeschreibungen, der Präsentation | |
wiederentdeckter Texte und ein besonderes Gespür des Autors für mögliche | |
Zusammenhänge. Entlang der Stichworte „Gewalt – Umwelt – Identität – | |
Methode“ ist auf diese Weise eine ebenso ungewöhnliche wie faszinierende | |
Form der Geschichtsschreibung entstanden. | |
Die feministischen und die indigenen Bewegungen gewannen um 1972 trotz | |
allem Post-68er-Blues an Aufwind und organisatorischer Stärke. Dabei wurden | |
weiße Feministinnen von Schwarzen Frauen bereits damals für das Ausblenden | |
ihrer Lebensrealitäten kritisiert. Auch indigene Organisationen beklagten | |
das „epistemische Unrecht“, eine Form der Ausgrenzung durch bestimmte | |
Formen der Wissensproduktion, Jahrzehnte bevor die epistemische Gewalt in | |
post- und dekolonialer Theorie thematisiert wurde. | |
Es sind Zeitschriftenartikel und künstlerische Arbeiten, | |
Architekturdebatten und Aktionen sozialer Bewegungen, die Holert aus den | |
Archiven geholt und gekonnt zueinander in Beziehung gesetzt hat. So leitet | |
beispielsweise David Bowie, der auf einem Plakat zu einem Benefizkonzert | |
zur Rettung der Wale posierte, vom Genderthema zur ökologischen Frage über. | |
Nun war 1972 war auch das Jahr, in dem Ajax Amsterdam durch zwei Tore von | |
Johan Creuyff den Europapokal der Landesmeister gewann und die | |
bundesdeutsche Herrenfußball-Nationalmannschaft durch einen | |
Drei-zu-null-Sieg gegen die Sowjetunion Europameister wurde. Aber Fußball | |
kommt bei Holert überhaupt nicht vor. Das ist keine Lücke in der Erzählung, | |
weil diese auf etwas ganz anderes abzielt, eben vor allem auf ästhetische | |
Artikulationen und politische Mobilisierungen. | |
Dennoch kann der Fußball auch die Frage nach dem sozialen Stellenwert der | |
Fakten aufwerfen, danach also, wie breit eigentlich die geschilderten | |
Prozesse wahrgenommen und rezipiert wurden. Während Angela Davis sicherlich | |
milieuübergreifend hinter der Panzerglasschreibe zu sehen war, durch die | |
sie bei Holert spricht, gilt das für viele andere Bilder und Broschüren | |
überhaupt nicht. | |
Nicht immer wird ganz deutlich, wie marginal oder massentauglich die | |
geschilderten Zusammenhänge eigentlich waren. Das Nebeneinander von | |
Großereignissen wie der documenta 5 oder Bowie-Auftritten auf der einen und | |
kleinen, kurzlebigen Bewegungszeitschriften auf der anderen Seite ist | |
insofern auch eine Setzung. Eine setzende Stiftung von Bedeutung. | |
Für das Verknüpfen von Theorie, Pop und Politik legt Holert jedenfalls | |
unschätzbare Spuren frei, die gerade durch den transnationalen und | |
globalgeschichtlichen Fokus von großer Überzeugungskraft sind. Unter | |
anderem dafür wurde „ca. 1972“ auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse zu | |
Recht mit dem gleichnamigen Preis in der Kategorie Sachbuch/Essayistik | |
ausgezeichnet. | |
Holert gräbt mit alldem immer wieder auch die Ursprünge heutiger Debatten | |
aus. Er stellt keine große These auf, sondern plädiert vor allem dafür, | |
seine Materialzusammenstellung als Beleg für „die Multiperspektivität von | |
Gegenwartserfahrung und Geschichte“ zu begreifen. Dieses Plädoyer ist | |
unbedingt plausibel. | |
4 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Jens Kastner | |
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