# taz.de -- Uli Hannemann Liebling der Massen: Völker, sauft die Liköre, auf … | |
Als ich am Nachmittag das Haus verlasse, ist alles voll mit jungen Leuten. | |
Mit Sektflaschen bewaffnet ziehen sie über die Bürgersteige und die | |
Fahrbahnen. Für andere Verkehrsteilnehmer ist kein Durchkommen mehr, nicht | |
einmal für Fahrradfahrer. Heute zeigen sie es uns Bonzen aber mal so | |
richtig. Doch ich bin ein guter Verlierer. Außerdem gehört der Tag der | |
Arbeit nun mal diesen Menschen, und dass er eine solche Masse von ihnen zu | |
mobilisieren vermag, stimmt mich froh: Ich bin positiv überrascht, wie | |
viele aufrechte Proletarier es offenbar noch gibt. Diszipliniert stehen die | |
Arbeiterinnen an den ambulanten Bier-, Fress- und Caipirinhaständen an, die | |
vor allem im Bannkreis der Spätis wie Pilze aus dem Boden schießen. Aperol | |
Spritz gibt es natürlich ebenfalls, die rote Farbe passt perfekt zum 1. | |
Mai. Was für ein originär revolutionäres Gemisch: Rotfront, Rotsaft, | |
Rotnase – Völker, sauft die Liköre, auf zum letzten Getränk. | |
Geduldig warten sie auch in langen Schlangen vor den Cashautomaten. Dass | |
sie das Leiden gewohnt sind – auf dem Arbeitsamt, am Fließband, dazu die | |
Enge in den Mietskasernen – sieht man auch hier. Kaum ein Klagelaut kommt | |
über ihre zähen Lippen, allenfalls lautes Kreischen und Lachen, wenn man | |
Freunden begegnet oder einem einmal mehr eine volle Bierpulle auf den | |
Radweg gefallen ist. Doch dann holt man sich – heureka! – eben einfach eine | |
neue. Not macht erfinderisch, der eiserne Durchhaltewille dieser braven | |
Menschen ist legendär. | |
Die meisten der Werktätigen sind jung; die harte Fronarbeit hat in ihren | |
Gesichtern bislang kaum merkliche Spuren hinterlassen, bis auf ein paar | |
glasige oder stark gerötete Augenpaare. Das ist ganz erstaunlich. Nur wenn | |
sie zur Straßenmusik sinnlos schreien, zucken und stampfen, bekommt man | |
eine leise Ahnung davon, was diese Menschen täglich durchmachen müssen. | |
Die Arbeiterschaft ist international. Ich höre Englisch, Spanisch, | |
Französisch, Italienisch, Dänisch. Und wie ich sehe, gehören Tanktop, | |
Sektflasche, Vaporizer und Strohhut zur Grundausrüstung der modernen | |
Malocher. Die Zeiten haben sich gewandelt, doch der Stolz bleibt. Was für | |
ein Anblick – die Arbeiterklasse lebt! Und wie! Lenin hätte vor Freude | |
geweint. | |
Redlich angetrunkene Arbeiter fahren nun zu dritt auf einem E-Roller im | |
Slalom durch die dichte Menge vor dem U-Bahnhof. Sie rempeln einen | |
schimpfenden Kollegen an, dem der Aperol rot aufs Seidenhemd spritzt, und | |
fahren lachend weiter. Wer möchte es ihnen verdenken, denn es sind gerade | |
sorglose kleine Momente wie dieser, der ihnen ein paar unbeschwerte | |
Sekunden schenkt, in denen sie ihre Sorgen und Nöte, den Schinder an der | |
Werkbank und den Zigarre rauchenden Fabrikbesitzer in seiner fetten Villa, | |
die sie allein mit ihrem Schweiß und Blut bezahlt haben, wenn schon nicht | |
vergessen, so doch immerhin für kurze Zeit verdrängen können. | |
Später komme ich schlecht in mein Haus wieder rein, weil erst eine Gruppe | |
besoffener Amerikaner die Tür versperrt und dann der Eingang voller | |
Flaschen liegt. Aber ich verstehe ja, dass sie keine Zeit haben, ihren Müll | |
wegzumachen. Morgen um sechs müssen sie bestimmt schon wieder bei Borsig an | |
der Maschine stehen, in der Pizzafabrik, am Hochofen oder in der | |
Werbeklitsche am Espressoautomaten. Da wollen sie wenigstens einmal ein | |
bisschen feiern und keine Flaschen wegräumen. Heute ist ihr Tag. Wer das | |
nicht versteht, ist ein herzloses Ausbeuterschwein, das dieser hart | |
schuftenden Schicht noch nicht einmal diese kleine Auszeit gönnt. | |
6 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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