# taz.de -- Der Faschist | |
> Victoria de Grazia analysiert in ihrem Buch die weitreichende | |
> Kulturrevolution des italienischen Faschismus | |
Bild: Mussolini und Gefährten beim Marsch auf Rom am 28. Oktober1922 | |
Von Till Schmidt | |
Mit der faschistischen Machtübernahme 1922 umgab sich Benito Mussolini mit | |
sogenannten „Hierarchen“ – alte Weggefährten, die mehrheitlich im Ersten | |
Weltkrieg gekämpft hatten und, abhängig von der Gunst des „Duce“, in | |
starker Rivalität zueinanderstanden. Einige dieser ehrgeizigen und | |
skrupellosen Männer haben ihren Weg in die Geschichtsschreibung gefunden. | |
So etwa Italo Balbo, Luftfahrtpionier und Generalgouverneur von | |
Italienisch-Libyen. Oder Achille Starace, der als Partei-Sekretär für den | |
Personenkult um Mussolini und die gigantischen Paraden verantwortlich war. | |
Attilio Teruzzi hingegen ist kaum bekannt. Mussolinis Schwiegersohn | |
beschrieb ihn 1930 im Corriere della Sera als „ein treues, mittelmäßiges | |
Werkzeug“. Darüber hinaus habe Teruzzi aber „ein wunderschönes, | |
faschistisches Gesicht“, das der 1882 geborene – zusammen mit seinem | |
sozialen Status – für seinen ausschweifenden Lebensstil zu nutzen wusste. | |
Fotos zeigen ihn als schneidigen General, der damaligen Schönheitsnormen | |
durchaus entsprach: machtbewusst in dekorierter Uniform, mit vollem Haar | |
und gezwirbeltem Bart. | |
Für Victoria de Grazia ist Attilio Teruzzi „der perfekte Faschist“, anhand | |
dessen Biografie sich eine monumentale Sozialgeschichte des italienischen | |
Faschismus erzählen lässt. Bis zu ihrer Emeritierung war de Grazia | |
Professorin für Geschichte an der Columbia Universität in New York. Zum | |
italienischen Faschismus hat sie zahlreiche Werke veröffentlicht. So etwa | |
„The Culture of Consent. Mass Organization of Leisure in Fascist Italy“ | |
(1981) oder „How Fascism Ruled Women. Italy, 1922-1945“ (1992). Auf | |
Englisch erschien „Der perfekte Faschist“ bereits 2020. | |
Im Zentrum des Buches steht Antonio Teruzzis gescheiterte Ehe mit Lilliana | |
Weinman, die 1920 aus New York nach Mailand gekommen war, um ihre Karriere | |
als Primadonna voranzubringen. Dass Weinman Jüdin war, stellte damals noch | |
kein Problem dar. Zur Hochzeitszeremonie kam der „Duce“ ebenso wie der | |
amerikanische Botschafter, und sogar die New York Times berichtete darüber. | |
Nach knapp vier Jahren Ehe machte Teruzzi jedoch Schluss – per Telegramm. | |
Da sich sein Versuch, die Heirat annullieren zu lassen, nicht so leicht | |
umsetzen ließ, dauerte die Ehe offiziell noch 17 weitere Jahre. Weinman | |
ging zurück in die USA, gab aber nicht klein bei und engagierte gute | |
Anwälte. | |
Bereits 1925 hatte Mussolini der Charakter des von ihm angestrebten totalen | |
Staates mit dem Motto „Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, | |
nichts gegen den Staat“ beschrieben. De Grazia geht es in ihrem Buch darum, | |
die in totalitären Regimen „stets sehr unscharfe Grenze zwischen | |
Persönlichem und Politischem, zwischen Befehlen des Führers und den | |
Forderungen des eigenen Herzens“ genauer in den Blick zu nehmen. „Der | |
perfekte Faschist“ stützt sich unter anderem auf unerforschte Primärquellen | |
aus dem Nachlass von Lilliana Weinman, deren Nachfahren de Grazia vor | |
vielen Jahren um die Erforschung ihrer Geschichte gebeten hatten. | |
„Der perfekte Faschist“ ist in einem leichten, immer wieder auch | |
süffisanten Ton verfasst, der die filmreif erscheinende Geschichte von | |
Attilio Teruzzi einem breiteren Publikum zugänglich machen dürfte. Teruzzis | |
verstörende Skrupellosigkeit sowie die dem Faschismus grundsätzlich | |
inhärente Gewalt vermag dieser Duktus jedoch nicht immer abzubilden. | |
Darüber hinaus verzichtet de Grazia, die sich auf eine Fülle von | |
wissenschaftlicher Literatur beruft, weitgehend auf theoretische | |
Erklärungsansätze. Zu Attilio Teruzzis Leben und Handeln bleiben daher | |
viele Fragen offen. | |
„Der perfekte Faschist“ ist dennoch ein faszinierendes und lehrreiches | |
Buch. Auch weil sich in der Geschichte eines rücksichtslosen Egozentrikers | |
so viele große Themen der ersten Hälfte der europäischen Geschichte des 20. | |
Jahrhunderts verdichten: individuelles Emporkommen, Opportunismus und | |
Autoritätshörigkeit; das Verhältnis von modernem Staat und traditioneller | |
Kirche sowie die brutale Geschichte von Antisemitismus, Kolonialismus und | |
faschistischer Männlichkeit. | |
4 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Till Schmidt | |
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