# taz.de -- Klopfgeräusche einer doppelten Einwanderung | |
> In seinem zweiten Roman erzählt Alem Grabovac von seiner Mutter, die | |
> zweifach aus Kroatien immigrierte: nach Deutschland und in die Männerwelt | |
> der Fabrik | |
Von Marlen Hobrack | |
Eine alte Frau fühlt sich verfolgt von dem Geist ihres Ex-Partners. Doch | |
die Geister der Vergangenheit, die die Frau nicht ruhen lassen, bestehen | |
nicht nur aus abgelegten Liebhabern: Sie trauert um ein nicht gelebtes | |
Leben. Erzählt wird ihre Geschichte von Alem Grabovac in „Die Gemeinheit | |
der Diebe“ aus der Perspektive ihres Sohns, der den Namen des Autors trägt. | |
Der Roman reiht sich also ein in die autofiktionale Literatur über die | |
Arbeiterklasse. Denn die Mutter kommt als kroatische Vertragsarbeiterin | |
nach Deutschland, wo sie Arbeit findet, aber kein Glück. | |
Die Mutter wird 1949 in Titos Jugoslawien geboren. Sie erlebt Armut und | |
Perspektivlosigkeit und lässt sich von einem hessischen Pralinenhersteller | |
als Vertragsarbeiterin anwerben. Die Arbeit ist ein Versprechen auf | |
Zukunft. Sie wird schwanger, und damit beginnen die Probleme. Sie gibt das | |
Kind in eine deutsche Pflegefamilie, wo es Stabilität und Geborgenheit | |
findet. Harte Arbeit, mangelnde Anerkennung und nie gelebtes Familienleben: | |
Das allein ist guter Stoff für einen Roman, der wahlweise als Familien- | |
oder Gesellschaftsroman erzählt werden könnte – oder eben beides, und das | |
beabsichtigt Grabovac. Viele Motive kennt man bereits aus seinem Debüt „Das | |
achte Kind“. Doch sein zweiter Roman will nicht recht Fahrt aufnehmen. | |
Vielleicht, weil der Text auf dem Weg allzu viele schöne Motive liegen | |
lässt. Die Mutter lässt beispielsweise in ihrer alten Heimat ein Haus | |
errichten, das sie nie bezieht; es steht nur für eine imaginierte, nie | |
realisierte Zukunft. Das unbewohnte Haus verschwindet jedoch im Textkosmos, | |
der das eigentliche Elend der Mutter darin erkennen will, dass sie sich die | |
falschen Männer sucht. | |
Handelt es sich überhaupt um einen Roman? Klassische literarische Mittel | |
fehlen. Dabei sind die Charaktere durchaus gut angelegt: Die Mutter ist als | |
ambivalente Figur gezeichnet, die sich kaputt schuftet und dafür ihr Kind | |
aufgibt. Der Sohn liebt diese Mutter, erkennt ihre | |
Aufopferungsbereitschaft. Es mangelt ihm nicht an erzählerischer Empathie. | |
Er weiß, dass sie zweimal bestohlen wurde: als Mutter und als Frau. | |
Die Pflegefamilie kümmert sich liebevoll um den Sohn, doch auch sie | |
repräsentiert Ambivalenz: Der Ziehvater ist Antisemit. Die | |
Widersprüchlichkeit dieses Mannes ließe sich als in ein tragisches | |
Sittenbild der 60er und 70er Jahre zeichnen, das sogleich bis in die | |
Gegenwart nachwirkt. Das wird allerdings weniger erzählt, sondern als Trope | |
platziert: Man weiß ja um den unaufgearbeiteten Nationalsozialismus. | |
Bei alledem muss man dem Roman zugutehalten, dass er erzählt, was selbst in | |
der neueren Arbeiterklassenliteratur noch immer ein Nischendasein fristet: | |
die Arbeiterinnenbiografie (jüngst etwa auch in Didier Eribons „Die | |
Arbeiterin“), die hier zugleich eine Einwanderungsbiografie ist. | |
Grabovac’Mutter immigriert nicht nur in das Land, sondern in eine | |
vermeintliche Männerwelt der Fabrikarbeit. | |
Doch dafür, dass der Roman im ersten Satz „Was bleibt von einem Leben, das | |
nie gelebt wurde?“ fragt, wird zu viel Biografie des Sohns referiert. Das | |
erinnert an Édouard Louis, der in „Die Freiheit einer Frau“ vor allem von | |
der eigenen Ich-Werdung erzählt. Vielleicht ist es eine verborgene | |
Wahrheit, dass der Sohn zweimal durch die Mutter geboren wird: einmal | |
realiter und einmal in dem Familienroman, in dem er sie beschreibt und | |
imaginiert, zum Objekt seiner Erzählung macht. | |
Über seine Studienzeit schreibt Grabovac: „Kapitelweise verschlang ich die | |
soziologischen Klassiker von Auguste Comte, Karl Marx, Émile Durkheim, | |
Georg Simmel, George Herbert Mead und Ferdinand Tönnies bis hin zu Max | |
Weber, beschäftigte mich mal mehr und mal weniger eingehend mit Adornos | |
Dialektik der Aufklärung, den funktional ausdifferenzierten Systemen von | |
Niklas Luhmann […]“ – und der Satz ist noch nicht einmal zur Hälfte | |
zitiert! Wäre es nicht aber Aufgabe eines Romans, Pierre Bourdieus | |
Habitustheorie erlebbar zu machen? Und ist die Mutter nicht ein Beispiel | |
für den von Weber diagnostizierten protestantischen Arbeitsethos, ganz ohne | |
Protestantismus? Warum spricht die Mutter, die als Erwachsene nach | |
Deutschland, noch dazu Hessen, einwandert, dasselbe exakte Hochdeutsch, das | |
der in Deutschland geborene Akademikersohn pflegt? | |
Der Roman wirkt gleich so viel lebendiger, wenn der junge Alem bei der | |
Einwanderungsbehörde vorspricht und endlich einmal Dialekt auftaucht. „So, | |
jedzd macha mir einen Deschd“, verkündet die Sachbearbeiterin. Warum das | |
denn nötig sei, fragt er. „Des isch egal. Vorschrifd bleibd Vorschrifd. Und | |
wir machet jetzt diesen Deschd.“ | |
Das ist zum Schreien komisch und unverschämt zugleich. Das versteht jeder | |
Leser, aber Grabovic traut uns nicht und fügt hinzu: „Ich fühlte mich | |
gedemütigt, war wütend, sprach doch hundertmal besser Hochdeutsch als sie.“ | |
So erzählt der Roman mal zu viel, mal zu wenig, erzählt vor allem vorbei an | |
dem Schmerz über ein nicht gelebtes Leben. Ein pochender Phantomschmerz, | |
ein Klopfgeräusch aus den Tiefen des Schranks, in dem sich die Geister der | |
Vergangenheit verstecken. | |
20 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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