# taz.de -- „Historisches“ bis „lächerliches“ Klimaurteil | |
> Gerichtshof verurteilt die Schweiz wegen zu lascher Politik. Das wird | |
> unterschiedlich aufgenommen | |
Von Carlo Mariani | |
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am | |
Dienstagvormittag gesprochen: Die Schweiz unternimmt zu wenig gegen den | |
Klimawandel. Mit Unterstützung von Greenpeace hatten die Schweizer | |
Klimaseniorinnen geklagt, dass ihr Land zu wenig gegen den CO2-Ausstoß | |
mache. Wegen der mangelnden Maßnahmen würden sie in ihrem Recht auf Leben | |
sowie auf Privat- und Familienleben verletzt. Und das Gericht gab ihnen in | |
großen Teilen Recht. Bahnbrechend dabei: Der EGMR stellt zum ersten Mal | |
einen Zusammenhang zwischen Klimawandel und den Menschenrechten her und | |
erkennt die Klimaerwärmung als existenzielle Bedrohung für die Menschen an. | |
Wenn zu wenig gegen den Klimawandel unternommen wird, werden also die | |
Menschenrechte verletzt. Gleichzeitig hat der EGMR die Schweiz auch | |
verurteilt, weil sie das Recht auf ein faires Verfahren verletzt hat: Die | |
Klage des Vereins der Klimaseniorinnen wurde auf nationaler Ebene | |
abgeschmettert, ohne dass das Bundesgericht inhaltlich darauf einging. | |
Die linken Kräfte in der Schweiz sind hocherfreut: „Dieses Urteil ist eine | |
Ohrfeige für die Schweizer Regierung und seine Untätigkeit im | |
Klimabereich“, sagte Mattea Meyer, Co-Präsidentin der Sozialdemokratischen | |
Partei. Die Partei verlangte öffentliche Investitionen für das Gelingen der | |
Energie- und Klimawende, und sie kritisierte den Bundesrat für dessen | |
Untätigkeit. Das Urteil sei vergleichbar mit dem Pariser Klimaabkommen, | |
sagte die Präsidentin der Grünen, Lisa Mazzone. Es habe weit über die | |
Schweiz hinaus Bedeutung. | |
Auf der rechten Seite des politischen Spektrums klingt es ganz anders: Der | |
Nationalrat der rechtspopulistischen SVP Mike Egger nannte das Urteil | |
gegenüber der Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-SDA „lächerlich“. Es | |
sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten. Die Schweiz betreibe | |
eine gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – | |
mit Erfolg, sagte Egger. Bei der FDP herrscht auch Ärger: Das Urteil sei | |
unverständlich, der EGMR verstehe offensichtlich die direkte Demokratie der | |
Schweiz nicht, twitterte Umweltpolitiker Christian Wasserfallen. | |
Doch wie geht es nun in der Schweiz weiter? Fest steht: Schweizer Gerichte | |
müssen sich künftig inhaltlich mit sogenannten Klimaklagen | |
auseinandersetzen und können sie nicht mehr einfach abweisen. Das Urteil | |
könnte die zuletzt etwas ausgebremste Schweizer Klimapolitik wieder in | |
Fahrt bringen. Doch zuerst wird die Schweizer Regierung wohl Stellung zum | |
Urteil nehmen. Und bald müsste ihre Vertretung im Europarat darlegen, wie | |
die Schweiz das Urteil umsetzen will. | |
Alain Chablais vertritt die Schweizer Regierung am EGMR. Die Regierung | |
nehme das Urteil „selbstverständlich zur Kenntnis“, es habe sogar | |
„historische Bedeutung“, sagte er der Agentur Keystone-SDA. | |
10 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Carlo Mariani | |
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