# taz.de -- „Eine Geschichte der Selbstermächtigung“ | |
> Romeo Franz’Familie hat Verfolgung, Vertreibung und Mord erlebt – steht | |
> aber auch für Widerstand und das Überleben. Wie aus dieser Geschichte ein | |
> Buch wurde, erzählt Co-Autorin Alexandra Senfft | |
Bild: Familiärer roter Faden: Romeo Franz mit der Geige und dem Bogen seines G… | |
Interview Sarah Lasyan | |
taz: Frau Senfft, Sie haben selbst aus der Perspektive der NS-Täter | |
geschrieben – wegen Ihrer eigenen Familiengeschichte. Wie vertraut war | |
Ihnen die Perspektive der Opfer? | |
Alexandra Senfft: Ich habe mich in den vergangenen Jahrzehnten schon sehr | |
intensiv mit den jüdischen Perspektiven beschäftigt. Durch den Arbeitskreis | |
für intergenerationelle Folgen des Holocaust, in dem ich als Vorstand | |
wirke, bin ich im Austausch mit den Nachkommen der Täter und Täterinnen, | |
der Mitläufer und Mitläuferinnen – und den Nachkommen der Verfolgten, Opfer | |
und Überlebenden. Dadurch war mir diese Perspektive bekannt, was mir | |
sicherlich dabei geholfen hat, einfühlsam zu sein gegenüber der Geschichte | |
der Sinti und Roma. Vielleicht auch dabei, die Klippen zu kennen, die man | |
erklimmen muss, um solche Dialoge erfolgreich zu führen. | |
Wie sind Sie diesen Perspektivwechsel angegangen? | |
Die Familiengeschichte von Romeo Franz hat mich stark berührt. Um die | |
großen Lücken durch verlorenes oder nicht aufgearbeitetes Wissen zu füllen, | |
bin ich sehr tief in die Recherche eingestiegen. Währenddessen hatte ich | |
manchmal aber auch einen kurzen Anflug von Unbehagen, insbesondere wenn ich | |
nach Geburts- oder Todesdaten von Verwandten fragte: Die von Robert Ritter | |
geleitete „rassenhygienische Forschungsstelle „erstellte in der NS-Zeit | |
groß angelegte Gutachten von Sinti und Roma, um sie letztendlich als | |
kriminell oder nicht lebenswert einzustufen. Auch ich musste solch | |
genealogische Fragen stellen, um herauszufinden, wer Franz’Familie war. | |
Manchmal bereitete mir das Bauchschmerzen. Gleichzeitig wusste ich immer, | |
dass meine Motivation eine vollkommen andere ist: Ich wollte die Menschen | |
wieder zum Leben erwecken, die bisher viel zu wenig beachtet worden sind. | |
Ihr gemeinsames Buch erzählt von der Ausgrenzung und Verfolgung der Sinti | |
und Roma, aber auch von ihrem Widerstand. Ist es also auch ein Versuch, die | |
Überlebenden zu ermächtigen? | |
Absolut. Das Buch möchte Sinti und Roma von damals und heute nicht nur als | |
Opfer etikettieren, sondern sie als handelnde Akteure und Akteurinnen | |
darstellen. Wir zeigen ja, wie verflochten die Familie von Romeo in die | |
Gesellschaft war, seine Angehörigen sie sowohl kulturell und gewerblich | |
entscheidend mitgeprägt, dass sie fest ansässig waren und gutbürgerlich | |
gelebt haben. Letztlich haben sie es durch ihre Resilienz auch nach dem | |
Krieg geschafft, daran anzuknüpfen und weiterhin zu dieser Gesellschaft | |
beizutragen, die sie nie gewollt hat. | |
Es geht nicht nur um die Nazis? | |
Schon vor der NS-Zeit waren Sinti und Roma eine geächtete Minderheit in | |
Deutschland, der unglaublich viele Hindernisse in den Weg gelegt wurden. | |
Und sie sind trotzdem ins Leben hier zurückgekehrt. Bedenkt man, was Romeo | |
Franz’ Familie angetan wurde und welche seelischen und körperlichen Spuren | |
das hinterlassen hat, ist seine Geschichte als Erfolgsgeschichte zu sehen. | |
Auch heute noch sind Sinti und Roma insbesondere in Ost- und Südeuropa eine | |
strukturell stark benachteiligte Minderheit, obwohl sie die größte | |
europäische Minderheit darstellen. Während meiner Schreibphase war ich | |
immer wieder schockiert festzustellen, wie tief der Antiziganismus selbst | |
in aufgeklärten, progressiven Menschen verwurzelt ist. Die Stereotype und | |
Klischees sind nie durchbrochen worden, Sinti und Roma haben nur selten die | |
Chance erhalten, sich selbstbewusst zu zeigen. Damit sich etwas an ihrer | |
Lebensrealität verändert, muss politisch und gesellschaftlich viel | |
passieren. Mit dem Buch wollten wir deshalb auch eine Geschichte der | |
Selbstermächtigung erzählen und zeigen: Das sind Menschen wie du und ich. | |
Wie kam es dazu, dass Sie sich seiner Familiengeschichte angenommen haben? | |
Ich kannte Romeo Franz schon durch unterschiedliche Gespräche, die ich mit | |
ihm als EU-Parlamentarier geführt habe. Irgendwann habe ich auch ein wenig | |
über seine Biografie erfahren und dachte dann, dass ich es toll fände, mit | |
ihm ein Buch darüber zu machen. Weil sie so viel Stoff enthält, der bislang | |
in Deutschland und darüber hinaus kaum bekannt ist. Und weil sie zugleich | |
stellvertretend für viele andere Sinti und Roma steht. Während meiner | |
Recherchen musste ich feststellen, dass ich mich bisher viel zu wenig mit | |
dieser Minderheit auseinandergesetzt hatte. Das hat mich dazu bewegt, mehr | |
erfahren zu wollen und ein Buch zu schreiben, das uns als Gesellschaft | |
aufklärt, mit Vorurteilen aufräumt und die Geschichten erzählt, die bislang | |
darauf warteten, sichtbar gemacht zu werden. | |
Das Buch zu schreiben, war also Ihre Idee? | |
Ja, ich habe Romeo aktiv angesprochen und er war sofort offen dafür, seine | |
Familiengeschichte zu erzählen. Letzten Endes kam ich zum richtigen | |
Zeitpunkt des Weges, um es gemeinsam mit ihm zu wagen. | |
Inwiefern war es ein Wagnis? | |
Das sage ich ganz bewusst, weil wir sehr tief in die Geschichten einsteigen | |
mussten. Das hat für Romeo zwangsläufig auch bedeutet, mich und meine | |
Familiengeschichte kennenzulernen, die das absolute Gegenteil zu seiner | |
eigenen darstellt: Ich stehe als Vertreterin der weißen | |
Mehrheitsgesellschaft, mein Großvater war ein NS-Täter. Romeo hingegen | |
vertritt die Minderheit, die von der Generation meines Großvaters verfolgt | |
worden ist. Und auch an genau diesen historischen Abgründen hätte unser | |
Projekt scheitern können. Es war eine große Herausforderung, die wir aber | |
als sehr wertvoll empfunden haben, weil wir einen gesellschaftlichen Dialog | |
anregen können, der bislang kaum stattgefunden hat. | |
Welche Rolle spielt die Musik? | |
Romeo Franz hat mit dem Geigenbogen seines in Auschwitz ermordeten | |
Großonkels Paul die Musik für das Denkmal der ermordeten Sinti und Roma in | |
Berlin komponiert und gespielt. Der Großonkel spielt also bis heute noch | |
eine zentrale Rolle – und sein Geigenbogen ist der rote Faden im Buch. | |
Außerdem zeigen wir, wie stark der Einfluss der Sinti und Roma sowohl auf | |
die klassische Musik als auch auf den Jazz war und so unsere Kultur geprägt | |
hat. In Gesprächen mit verschiedenen Menschen habe ich immer wieder das | |
Klischee hören müssen: „Sinti und Roma sind ja so musikalisch, das liegt | |
ihnen im Blut.“ Dass viele von Ihnen so musikalisch sind, liegt nicht | |
daran, dass sie mit einer quasi genetisch angelegten, besonderen | |
musikalischen Begabung geboren wurden, sondern daran, dass die Musikbranche | |
bei all den Berufsverboten zeitweilig ihre einzig mögliche Einkommensquelle | |
war, mit der sie überleben konnten – bis sie die Nazis komplett vertrieben | |
haben. | |
Durch die Verfolgung sind viele Überlebende und ihre Nachfahren | |
traumatisiert. Welche Rolle spielt das in Romeo Franz’ Geschichte? | |
Traumata sind bei Sinti und Roma nur punktuell bis gar nicht untersucht | |
worden. Joschi Pohl, der Großonkel von Romeo Franz, war als junger Mann in | |
vier verschiedenen Konzentrationslagern, musste Zwangsarbeit leisten – so | |
was krempelt die Psyche eines Menschen komplett um. Viele, die überlebt | |
haben, sind völlig traumatisiert in ein Leben zurückgekehrt, das sie sich | |
erst einmal zurückerobern mussten. In der Nachkriegszeit hat sich niemand | |
darum bemüht, das gebrochene Vertrauen und die Verletzungen der eigenen | |
Bürgerinnen und Bürger aufzuarbeiten. Solche Spuren sitzen so tief, dass | |
sie über Generationen weitergereicht werden. | |
Das alles bekräftigt, dass noch viel Aufklärungsarbeit nötig ist. Wen | |
möchten Sie mit dem Buch erreichen? | |
Wir wollen einen möglichst großen Teil der Gesellschaft ansprechen. Viele | |
Sinti und Roma zeigen sich nicht als Minderheit, weil sie Angst haben, | |
diskriminiert zu werden. Aber die Realität ist: Sie leben unter uns und | |
sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Es ist unsere Aufgabe, | |
Antiziganismus, Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit | |
entschieden entgegenzutreten, damit sich die Geschichte nicht wiederholt! | |
Gleichzeitig soll unser Buch Sinti und Roma dazu ermutigen, sich selbst zu | |
ermächtigen. Aber dazu braucht es die Unterstützung der | |
Mehrheitsgesellschaft. | |
8 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Sarah Lasyan | |
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