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# taz.de -- berliner szenen: Zu krank zum Zuhören
Sie bestellt Cappuccino und Croissant, er möchte nichts. Sie würde ihn
gerne einladen, er lehnt niesend ab. Kein Appetit, er fühlt sich zu krank.
Stattdessen stellt er ein Fläschchen mit Erkältungstropfen auf den Tisch
und eine Packung Halspastillen. Das eben benutzte Taschentuch legt er in
die Mitte.
Die beiden alten Freunde könnten kaum unterschiedlicher aussehen. Sie
dezent geschminkt mit kunstvoll-lässig frisierten Haaren, er ungekämmt und
unrasiert in zerknitterte Schals gehüllt. Eigentlich möchte sie etwas mit
ihm besprechen, ein Konflikt mit Kollegen quält sie, sie möchte seine
Meinung hören. Aber er unterbricht sie ständig. Einmal muss er schnell eine
Mail checken, dann eine Sprachnachricht abhören und die, sorry, mal eben
beantworten. Er kann das ja schriftlich tun, sie soll ruhig weitersprechen
– bis sie schließlich fragt, ob sie ihr Treffen lieber an einem anderen Tag
fortsetzen wollen. Das will er nicht, sie soll doch einfach ihr Problem
schildern.
Kaum hat sie angesetzt – es geht um eine frei werdende Stelle –, greift er
zum Telefon, setzt sich in Positur und macht ein Selfie. Ein prüfender
Blick auf das Ergebnis – nein, die Beleuchtung war schlecht, er dreht sich
anders herum, die Kamera von schräg oben. Das gefällt ihm besser. Auf ihre
Frage kann er nicht reagieren. „Entschuldige, ich war kurz abgelenkt. Wie
findest du diese Einstellung?“ Statt die Vergeblichkeit ihres Unterfangens
einzusehen, setzt sie noch mal an.
Jetzt beginnt er, die Kamera auf sie auszurichten, das Croissant soll
unbedingt mit aufs Bild. Er zeigt ihr das Ergebnis. „Voll schön, oder?“ Sie
nickt zögerlich, wundert sich aber, dass er sie gerade jetzt ins beste
Licht rücken muss. „Ich will das im Gruppen-Chat posten, neben meinem, als
Kontrast. Damit man sieht, wie krank ich bin.“ Claudia Ingenhoven
11 Mar 2024
## AUTOREN
Claudia Ingenhoven
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