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# taz.de -- tazđŸŸthema: „Ich hab mich ganz losgelöst gefĂŒhlt“
> Singen mit Krebspatientinnen und Krebspatienten im Krankenhaus will
> Menschen in gesundheitlichen Krisen stÀrken und Mut machen
Bild: MĂ€nner sind oft skeptisch, sie brauchen Texte und eine Gitarre zur Unter…
Von Joachim Göres
Sieben Frauen sitzen im Kreis im Garten der Medizinischen Hochschule
Hannover (MHH) und hören Jochen Bockholt zu. Der erfahrene Singleiter
spielt eine eingÀngige Melodie auf seiner Gitarre und singt dazu ein Lied
von Wolfgang Bossinger: „Wir sind verbunden / durch alle Zeiten / durch
alle RĂ€ume / wir sind eins.“ Bockholt wiederholt den Text immer wieder,
nach seiner Aufforderung stimmen die Frauen nach und nach ein. Manche
kostet das Überwindung, denn die meisten halten sich fĂŒr unmusikalisch.
Bockholt begleitet die Gruppe weiter mit seiner Gitarre und wechselt vom
Liedtext auf einzelne Laute wie O oder A. „Singt die Melodie einfach auf
diesen Buchstaben weiter, macht den Mund weit auf und schließt die Augen“,
lautet seine nĂ€chste Anweisung. Dabei dĂŒrfen die Arme in den Himmel gereckt
und auch gegÀhnt werden.
Die Frauen zwischen Mitte 20 und Ende 50 haben alle die Diagnose Krebs
bekommen. Das Singen soll die medizinische Behandlung nicht ersetzen,
sondern ist Teil des ergĂ€nzenden MHH-Angebots „StĂ€rke deine
SelbstheilungskrĂ€fte“, um Stress abzubauen und neue Energie zu gewinnen.
„Wenn es einem schlechtgeht, hĂ€lt man schnell reflexhaft den Atem an. Wir
vertiefen durch das Singen die Atmung, dann bleibt nur noch der halbe
Schmerz ĂŒbrig“, erklĂ€rt Bockholt, bevor er das nĂ€chste Lied von Karl Adamek
anstimmt. Der Text ist eindeutig: „Ja, ich fĂŒhle Sinn / geb das Klagen hin
/ Und was vorher schwer / wandelt sich ins Mehr / Liebe soll allein / Ziel
und Weg mir sein / Wunden werden dann / Wunder irgendwann.“ WĂ€hrend sie
singend diese Zeilen wie ein Mantra immer aufs Neue wiederholen, fĂŒhren die
Frauen durch Bockholt ermuntert fließende Qi-Gong-Bewegungen aus.
„Das Singen zusammen mit der Bewegung fand ich ganz toll, danach hab ich
mich ganz losgelöst gefĂŒhlt. Ich war entspannter und ausgeglichener“, sagt
eine 29-jÀhrige Teilnehmerin. Sechsmal war sie zur Chemotherapie, nun steht
die Operation an. „Die erste Zeit nach der Diagnose war schwierig,
verbunden mit viel Traurigkeit. Doch ich bin ein sehr positiver Mensch und
will nicht, dass der Krebs mir meine Fröhlichkeit nimmt. Ich habe meine
Krankheit angenommen. Mir hilft, dass wir uns in dieser Gruppe immer
donnerstags sehen und uns gegenseitig stĂ€rken“, sagt sie. Aktuell treffen
sich die Teilnehmerinnen von „StĂ€rke deine SelbstheilungskrĂ€fte“ von Janu…
bis MĂ€rz einmal die Woche in der MHH – der Vormittag steht unter
medizinischer Leitung, nachmittags findet jeweils ein Kurs statt, außer
Singen zum Beispiel Yoga, Meditation, Feldenkrais oder Tanztherapie.
Bockholt freut sich ĂŒber die große Offenheit der Teilnehmerinnen fĂŒr sein
musikalisches Angebot, dass er heilsames Singen nennt. „Es geht um die
Haltung zum Leben, es geht darum, Frieden zu schließen mit dem, was gerade
ist“, sagt er und fĂŒgt hinzu: „Viele sind ĂŒberrascht, dass sie singen
dĂŒrfen und können. Das ist erlösend, oft fließen TrĂ€nen.“
Bockholt kann nach einer Weiterbildung zum zertifizierten Singleiter fĂŒr
Gesundheitseinrichtungen und KrankenhÀuser in sogenannten Singenden
KrankenhĂ€usern Gruppen leiten – KrankenhĂ€user, die sich verpflichten, fĂŒr
ihre Patienten regelmĂ€ĂŸig unter Leitung einer Fachkraft ein gemeinsames
Singen anzubieten. In Deutschland gehören 36 Kliniken diesem Netzwerk an
(siehe www.singende-krankenhaeuser.de). Dort sind die Mediziner ĂŒberzeugt,
dass das Singen ohne Leistungsdruck und Notenkenntnissen fĂŒr Menschen in
gesundheitlichen Krisensituationen hilfreich ist.
Wolfgang BaumgÀrtner hat lange als Hausarzt und Psychotherapeut in Melle
bei OsnabrĂŒck gearbeitet. „Ich habe zunĂ€chst ausgelotet, ob es beim
Patienten ein musikalisches Interesse gibt und konnte dann oft
Rhythmusarbeit und Instrumente einsetzen“, sagt der Arzt im Ruhestand.
Dabei hat er gern auf bekannte Titel zurĂŒckgegriffen wie „Jetzt tönen die
Lieder“ oder „Froh zu sein bedarf es wenig“. Er hat mit Patienten am
Sterbebett gesungen und die erleichternde Wirkung erlebt. FĂŒr Menschen, die
an Depressionen leiden, sei das Singen in Gemeinschaft oft ein enormes
Erlebnis. „Bei einer Frau mit Demenz, die schon lange nicht mehr gesprochen
hatte, habe ich die Melodie von ‚Geh aus mein Herz und suche Freud‘
gesummt. Da fĂ€ngt die Frau plötzlich an, das Lied zu singen“, berichtet
BaumgĂ€rtner. Er weiß, dass man durch das Singen mitunter stark erregt
werden kann, wenn die Musik mit einem Trauma verbunden ist: „Auf solche
Reaktionen sind zertifizierte Leiter in den Singenden KrankenhÀusern
vorbereitet.“
Melanie Wilde singt in einem Alten- und Pflegeheim in Hamburg mehrmals die
Woche mit Bewohnern. „Meine Kurse sind voll, es gibt viel mehr
Interessenten als PlĂ€tze“, sagt Wilde. Es kommen auch
Schlaganfallpatienten, die gar nicht mehr sprechen können. „Auch sie sind
mit Eifer dabei, wenn sie mit einer Rassel in der Hand den Takt schlagen“,
erzĂ€hlt sie. FĂŒr alte Menschen, die viele Dinge schnell vergessen, sei es
ein positives Erlebnis, wenn sie sich beim Singen an Liedtexte erinnern und
mitsingen könnten. Zu den Hits zĂ€hlen bei ihren Bewohnern „Die Gedanken
sind frei“, „Ännchen von Tharau“, „Liebeskummer lohnt sich nicht“ und
„Marmor, Stein und Eisen bricht“. Wilde: „Die meisten brauchen keine Text…
die kennen sie auswendig.“ Ein Ratgeber fĂŒr Pflegende bringt dieses
PhĂ€nomen im Buchtitel so auf den Punkt: „Ein Herz wird nicht dement.“
Wilde und BaumgÀrtner beziehen sie sich nicht nur auf ihre Erfahrung,
sondern auch auf wissenschaftliche Studien. Jochen von Wahlert, Àrztlicher
Direktor der Psychosomatischen Privatklinik Bad Grönenbach, verweist auf
Kernspintomografie-Untersuchungen, die zeigen, das Singen Angst und Stress
abbaut. Auch konnten positive Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System,
Schmerzstörungen sowie Depressionen festgestellt werden.
Ein Allheilmittel ist das Singen nicht. „Wir wissen und respektieren, dass
es Menschen gibt, die keinen Zugang zum Singen finden“, rĂ€umt Elke
WĂŒnnenberg ein, Psychologin in der Akutklinik Urbachtal und erste
Vorsitzende des Vereins Singende KrankenhÀuser. Vor allem MÀnner sind
hÀufig skeptisch. Diese Erfahrung hat auch Sebastian Stierl gemacht,
Ă€rztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik LĂŒneburg. „Ein
Krankenpfleger hat mir dann gezeigt, wie es geht. MĂ€nner brauchen Texte und
eine Gitarre zur UnterstĂŒtzung! Und dann ging es auch hier“, sagt Stierl
und ergĂ€nzt: „Das Gesicht eines Menschen am Anfang und am Ende einer
Singrunde spricht BĂ€nde!“
3 Feb 2024
## AUTOREN
Joachim Göres
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