# taz.de -- „Sie vergleichen sich ständig mit anderen“ | |
> Über Binge-Eating, die häufigste und unbekannteste Esstörung, ist eine | |
> neue Studie an der Universität Osnabrück erschienen. Ihre Verfasserin, | |
> die Psychologin Hannah Quittkat, erklärt, wie eine verbesserte | |
> Körperwahrnehmung zur Heilung beitragen kann | |
Interview Friederike Grabitz | |
taz: Frau Quittkat, Sie haben für Ihre Doktorarbeit die | |
Binge-Eating-Störung erforscht. Was ist das? | |
Hannah Quittkat: Menschen, die von der Binge-Eating-Störung betroffen sind, | |
haben regelmäßig Essanfälle. Anders als Betroffene vieler anderer | |
Essstörungen gleichen sie diese aber nicht aus, indem sie zum Beispiel | |
absichtlich Erbrechen oder übermäßig viel Sport treiben. Häufig haben sie | |
deshalb Gefühle der Schuld oder Scham. Es ist die häufigste von allen | |
Essstörungen in Deutschland: Je nach Studie leiden zwischen einem und sechs | |
Prozent der Menschen daran. Bei Anorexie sind es beispielsweise 0,5 bis | |
zwei Prozent. | |
Wie unterscheidet sich diese Form von anderen Essstörungen? | |
Die beiden Essstörungen Anorexie und Bulimie sind zwar seltener als die | |
Binge-Störung, aber viel bekannter. Die Anorexie ist geprägt durch | |
Untergewicht und die Angst vor einer Gewichtszunahme. Bei der Bulimie | |
leiden Betroffene unter Essanfällen, die sie dann durch Erbrechen oder | |
übermäßigen Sport ausgleichen. Diese Menschen sind nicht unbedingt | |
übergewichtig. | |
Anorexie und Bulimie sind sehr bekannt. Warum haben die meisten Menschen | |
dagegen noch nie etwas von der Binge-Eating-Störung gehört? | |
Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen. Erst seit zwanzig, | |
dreißig Jahren gibt es Studien dazu. Und erst vor zehn Jahren, nämlich | |
2013, wurde die Störung von der „American Psychiatric Association“ (APA) | |
als Essstörung anerkannt. Das ist wichtig, damit Betroffene mit dieser | |
Diagnose eine adäquate Psychotherapie erhalten können. | |
In Ihrer Studie zu der Störung haben Sie ausschließlich Frauen erforscht. | |
Wie haben Sie Ihre Probandinnen gefunden? | |
Die Frauen haben wir über Social-Media-Kanäle im ganzen deutschsprachigen | |
Raum gesucht. Insgesamt haben 120 Frauen teilgenommen, jeweils 40 Frauen | |
mit einer Binge-Eating-Störung, mit Mehrgewicht sowie mit Normalgewicht. | |
Wie war Ihre Studie aufgebaut? | |
Als wir die Forschung begannen, gab es noch Coronabeschränkungen. Deshalb | |
bot es sich an, die Studie online durchzuführen. Zuerst haben wir ein | |
zweistündiges strukturiertes Interview gemacht, in dem wir abgeklärt haben, | |
ob die Frauen eine Binge-Eating-Störung haben oder nicht. Im zweiten | |
Schritt haben wir ihnen Fragebögen zugeschickt, die sie uns beantwortet und | |
zusammen mit einem Foto ihres Kopfes zurückgesandt haben. Dann gab es ein | |
Online-Experiment für die eigentliche Studie. Dabei zeigten wir den Frauen | |
manipulierte Körperbilder: dünne, normalgewichtige und mehrgewichtige | |
Körper, die wir mal mit ihrem eigenen Gesicht und mal mit einem fremden | |
Gesicht zeigten. Jedes Mal, wenn sie ein Bild sahen, sollten die Frauen | |
bewerten, wie es auf sie wirkt. | |
Wie haben die Frauen auf diese Körperbilder reagiert? | |
Grundsätzlich waren die Frauen viel aufgeregter, wenn sie einen Körper | |
sahen, der mit dem eigenen Gesicht angezeigt wurde. Auffällig war: Sahen | |
sie einen sehr dünnen oder einen mehrgewichtigen Körper mit ihrem eigenen | |
Gesicht, waren die Reaktionen deutlich negativer, als wenn sie ihn mit | |
einem fremden Gesicht sahen. Bei normalgewichtigen Körpern gab es da keinen | |
großen Unterschied. Sie empfanden es also schlimmer, selbst mehr- oder | |
untergewichtig zu sein. | |
Was folgern Sie daraus? | |
Wenn ich bei mir selbst stärker auf eine Abweichung reagiere als bei | |
anderen, ist das eine Verzerrung in der Bewertung. Das zu wissen, ist zum | |
Beispiel in einer Therapie sehr wichtig. TherapeutInnen können das zusammen | |
mit Betroffenen nutzen, indem sie zum Beispiel vor einem Spiegel versuchen, | |
die Selbstwahrnehmung zu verbessern. | |
Wie können Menschen auch ohne Therapie zu einem gesunden Körpergefühl | |
kommen? | |
Wir können uns bewusst machen, dass in Social Media oder in der Werbung | |
viele Körper gezeigt werden, die besonders schlank und muskulös sind. Was | |
macht das mit mir, und welchen Umgang finde ich damit? Deswegen arbeiten | |
wir viel auf Social Media, um dort Menschen zu erreichen. Dort berichten | |
wir auch regelmäßig über unsere Forschungen auf der Instagram-Seite | |
#koerperbildforschung. | |
Was passiert jetzt mit den Forschungsergebnissen? | |
Die Studie wurde in dem Fachjournal „International Journal of Eating | |
Disorders“ publiziert. Das ist wichtig, damit andere Forschende das Thema | |
aufgreifen und weiterentwickeln. Außerdem haben wir, aufbauend auf den | |
Ergebnissen der Studie, ein kostenloses Trainingsprogramm entwickelt. Es | |
richtet sich an Frauen, die unzufrieden mit ihrem Körper sind. Nächstes | |
Jahr wird es so ein Training auch speziell für Frauen mit Essstörungen | |
geben. | |
Was lernen die Frauen dort? | |
Zuerst geht es darum, sich bewusst zu machen, wie sie den eigenen Körper | |
durch ständiges Vergleichen mit anderen wahrnehmen und wie sie damit | |
umgehen können, dass es diese Vergleiche gibt. Im nächsten Schritt lernen | |
sie, den eigenen Körper unabhängig von solchen Bildern wahrzunehmen und | |
besser zu akzeptieren. | |
Die Studie ist abrufbar unter https://doi.org/10.1002/eat.23998. | |
Das Fachgebiet Klinische Psychologie & Psychotherapie der Uni Osnabrück auf | |
Instagram: @koerperbildforschung | |
5 Feb 2024 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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