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# taz.de -- berliner szenen: Sockenkauf mit Erdkunde
Winter in Berlin. Kalte Füße, kein Kamin. Das Loch im Strumpf schon
fersengroß. Jetzt nichts wie hin zu Enhbold. Die Yakwollsocken der Mongolin
Enhbold Neuhaus sind die wärmsten. Vor Jahren entdeckte ich sie an einem
Hackeschen-Markt-Stand. Damals zog die Mongolin mit ihren Yakwollsocken
noch wie eine Nomadin über Wochenmärkte. Nun ist sie in der Diercksenstraße
sesshaft.
Kaum setze ich meinen kalten Fuß über ihre Ladentürschwelle, betrete ich
ein kleines modernes mongolisches Reich. Keine Jurten-Folklore, weiße
Wände, klares Design, feine Kaschmirware. „Wir Mongolen mögen Qualität.
Keinen China-Ramsch. Deutsche Markenprodukte, am besten Mercedes!“ „Und
Ihre Socken sind mein Ferrari“, sage ich. Unser Talk kommt in Fahrt.
Stabilität und Frieden bedeute ihr Name. Enhbold hängt dem mongolischen
Schamanismus an. Sie beklagt den Ressourcenhunger ihrer „korrupten
Regierung“. Die Böden würden geschröpft. Die Gier nach Gold und Uran
verletze ihre Mutter Erde. „Und meine Mutter wird bald hundert“, sage ich.
Da packt sie beiläufig ein paar Socken für sie ein. Geste des Respekts vor
dem Alter. Bei ihren Erzählungen erfüllt den minimalistischen Geschäftsraum
nun doch die Gemütlichkeit einer Jurte. Knarzende Kehlkopfgesänge aus
Enhbolds Laptop, dazu magischer Sound von Pferdekopfgeigen. Die weißen
Wände werden zu weiten Steppen, draußen ziehen Yakherden vorbei, Bilder
Stuten melkender Mongolinnen, Reiter peitschen durch die Kaschmirkleider,
vergorene Stutenmilch dampft in die Winterluft. Der Alex wird zu Ulan
Bators Tschingis-Khan-Platz. Jetzt ist aber Ladenschluss! Ich mach mich auf
die Socken. „Nehmen Sie auch die S-Bahn?“ Enhbold stutzt. „Nein, den
Wagen.“ „Mercedes!“, zwinker ich.
Wir müssen beide lachen.
Guido Schirmeyer
24 Jan 2024
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Guido Schirmeyer
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