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# taz.de -- Über die Wunden der Gegenwart
> Ufuk Güldü und Oliver Toktasch gründeten das Ballhaus Prinzenallee als
> einen Freiraum für engagierte Projekte junger Kunstschaffender mit
> Migrationshintergrund. Auf dem Spielplan stehen politische Stücke, die
> nachwirken
Bild: Aktenseiten bilden das Bühnenbild für „NSU – Auch Deutsche unter de…
Von Iwona Uberman
Im Hinterhof der Prinzenallee 33 verbirgt sich ein spannender Kulturort.
Sehr bekannt ist er noch nicht, obwohl inzwischen einige Inszenierungen,
die dort stattfinden, als Geheimtipp gelten könnten. Sparsam in Mitteln,
durch ihre Themen und Wahrhaftigkeit in der Darstellung wirken die Stücke
lange nach. Die Rede ist vom Ballhaus Prinzenallee, das seit 2021 zur
Theaterlandschaft Berlins gehört.
Die Idee, im Wedding ein „nonstop politisches Theater“ zu gründen, kam von
Ufuk Güldü. Zusammen mit Oliver Toktasch beschloss er, einen Freiraum zu
schaffen für engagierte Projekte junger Kunstschaffender mit
Migrationshintergrund, für Newcomer:innen in der Stadt und für
Autor:innen, Regiseur:innen sowie Darsteller:innen, die ihre Länder
verlassen mussten oder aus sonstigen Gründen dort keinen Platz für sich
mehr sahen.
All diejenigen, die mit der Geschichte des Ballhaus Naunynstraße vertraut
sind, wird das Konzept vom Ballhaus Prinzenallee zum Teil daran erinnern.
Seitdem jedoch die Leiterin des Ballhaus Naunynstraße, [1][Shermin
Langhoff], mit ihrem Team ins etablierte [2][Gorki-Theater] umgezogen ist,
wo sie ein „post-“ oder „postpost-migrantisches“ (also allgemein deutsc…
Programm umsetzt, gibt es für diejenigen, die sich mit ihren persönlichen
Migrationsgeschichten und manchmal noch frischen Fluchterlebnissen
auseinandersetzen wollen, am Gorki nicht immer genügend Platz. Auch das
Ballhaus Naunynstraße hat inzwischen sein Profil geschärft und sich auf die
black community fokussiert. Damit passt auch da nicht jedes Thema und jede
Herkunftslandgeschichte hinein.
Güldü und Toktasch haben diese Lücke erkannt. So wurde das Ballhaus
Prinzenallee zur Heimat für afghanische Jugendliche, russische Gestrandete,
türkische Kunstschaffende und deutsche Künstler:innen, die sich wünschen,
tiefer in Lebenswelten migrantischer Kolleg:innen einzutauchen.
Im Ballhaus Prinzenallee werden schmerzhafte Themen wachgehalten, um zu
verhindern, dass Wunden der Gegenwart, solange sie noch bluten, vergessen
werden. Dazu gehören [3][die Morde der Terrorgruppe NSU]. Das zu diesem
Thema 2015 entstandene Stück „NSU – Auch Deutsche unter den Opfern“ von
Tuğsal Moğul fand damals viel Beachtung. Heute kann man es kaum noch
irgendwo sehen, obwohl vieles darin weiterhin sehr aktuell ist. Am Ballhaus
Prinzenallee steht das Stück im Spielplan, es wurde vom Ehepaar Övul und
Mustafa Avkiran inszeniert. Das auf Fakten basierende nüchterne Erzählen
zeigt komprimiert eine unglaubliche (und beunruhigende) Anhäufung von
Zufällen: Bearbeitung der Mordfälle durch zwielichtige Ermittler beim
Verfassungsschutz, Mitbeteiligung hochkrimineller, rechtsradikaler V-Männer
an den Ereignissen, die nachträglich vom Verfassungsschutz gedeckt wurden,
„versehentliche“ Vernichtung wichtiger Akten, Druck auf die Angehörigen der
Opfer, und Versuche, die Narration von ausländischer Kriminalität und
Abrechnungen türkischer Drogenmafia durchzusetzen. Aus diesem Netz entsteht
im Stück ein allgemeines, atmosphärisch dichtes Bild vom Klima eines
Landes, in dem der NSU sich verbreiten und ungestört morden konnte.
Um das alles anschaulich und eindrucksvoll darzustellen, genügt im Ballhaus
ein Bühnenbild aus Aktenseiten. Zum Teil hängen sie von der Decke, zum Teil
liegen sie zerstreut auf dem Boden, von oben tropft auf sie in der Mitte
des Raumes rote Flüssigkeit, die aussieht wie Blut. Drei
Schauspieler:innen spielen mehrere Personen: über das Geschehen
reflektierende, gut informierte Narratoren, Gerichtspersonal mit
Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Richtern, Zeugen, einem Polizisten,
Vertretern der Familien der Opfer. Es gibt weitere Szenen mit
Verfassungsschutzmitarbeitern, Augenzeugen, die im Verfahren nicht gehört
wurden, türkischen Mitbürgern, die die Opfer kannten. Die nüchterne und
trotzdem mit eindringlichen Bildern arbeitende Inszenierung erzielt starke
Wirkung.
Seit der Premiere Ende 2021 gibt es eine kleine Veränderung, die sich
anzusprechen lohnt. Rollenübernahmen kommen in der freien Szene noch
häufiger als bei festen Ensembles vor. Die Partien von Jules Armana, der
neben Freya Kreutzkam und Lukas Schmidt spielte, wurden von Jonas
Broxtermann übernommen. Somit werden alle Figuren, auch die der türkischen
Mitbürger und Angehörigen der Opfer, ausschließlich von deutschen
Schauspieler:innen verkörpert. Alle drei spielen sie behutsam, mit
innerem Facettenreichtum und gespürter Tiefe. Die Situationen, in die diese
Menschen geraten sind, die Albträume der Realität, ihr Schmerz,
Fassungslosigkeit und Versuche, Haltung und Würde zu bewahren, werden
feinfühlig vermittelt und berühren. Es muss nicht immer falsch sein,
jemanden zu repräsentieren. Wenn man es so macht wie in dieser
Inszenierung, ist es gerade richtig, da dahinter eine klare Haltung steht:
„Wir machen hier euer Unglück zu unserer Sache.“ Es ist sicherlich ein
wichtiger Beitrag zu der allgemeinen Repräsentationsdebatte.
Gespielt wird auch „Remembering Afghanistan“, eine Inszenierung mit
afghanischen Jugendlichen unter der Regie von Frishteh Sadati. Es ist eine
Geschichte über den Weg, den die jungen Leute zurückgelegt haben, um nach
Deutschland zu kommen. Sie kamen auf Booten über das Mittelmeer, über grüne
Grenzen, über einige Länder, mit mehreren Stationen. In kurzen,
kaleidoskopischen Szenen werden Erinnerungen aus der freudigen Kindheit in
Afghanistan dargestellt, dann Abschiede von Freunden, schwieriges Ausharren
in der Türkei, illegale Grenzübertritte mit Schleusern. Angst und Spannung
sind oft ganz stark spürbar, Tragödien wie: sich beim Rennen ums Leben zu
verirren oder verlorenzugehen und sich plötzlich ganz allein, ohne Eltern
wiederzufinden – diese Geschichten gehen unter die Haut.
Auch die sparsam beleuchtete Bootsüberfahrt auf den überfüllten Booten ist
zu erleben. Man spürt, dass dies nicht geschauspielert wird. Die Körper der
Jugendlichen strahlen aus, woran sie sich erinnern. Es ist mutig, diese
Erinnerungen zuzulassen, von ihnen öffentlich zu erzählen. Auch hier drängt
sich das Wort Behutsamkeit auf. Frishteh Sadati weiß, was in den
Gruppenmitgliedern hochkommt, auch sie kennt genau diese Erinnerungen. Aber
für diese Gruppe ist es offensichtlich der richtige Weg, das Traumatische
auszuleben, um in Deutschland besser anzukommen. Die Wahrhaftigkeit, die an
diesem Abend überall sichtbar ist, ist trotz asketischer Raumgestaltung und
darstellerischer Unzulänglichkeiten ein sehr starker Abend für das
Publikum.
Ein Experiment anderer Art ist „Wohin“ in der Regie von Oliver Toktasch.
Aus der Ankündigung erfährt man, dass die in Deutschland lebenden
Schauspieler:innen in der Inszenierung versuchen möchten, sich den
Erlebnissen der nach Europa Fliehenden anzunähern.
Was man zu sehen bekommt, ist eine Mischung aus Bruchstücken von „Wohin“
von Hüseyin Alp Tahmez und kurzen Vorstellungen der Schauspieler:innen.
Eine weitere Geschichte ergibt sich nicht, obwohl gerade Stücke, die
zeigen, wie ein engeres Miteinander in Deutschland aussehen könnte,
sicherlich interessant wären. Kein fertiges Stück nur aus Improvisationen
gleich perfekt geliefert zu bekommen, soll niemand wundern.
Aber Denkanstöße zu liefern und neue Theaterimpulse zu geben – zuletzt auch
mit dem Stück „Tevâfuk/ Match/ Fügung“ über männliche Sexarbeiter, sch…
am Ballhaus Prinzenallee zu gelingen. Es lohnt sich, dort vorbeizuschauen.
Nächste Vorstellungen von „Tevâfuk/Match/Fügung“ am 26. und 27. Januar
11 Jan 2024
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## AUTOREN
Iwona Uberman
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