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# taz.de -- taz🐾thema: Anhängliche Schalentiere
> Ein klassischer französischer Sud aus Weißwein und Zwiebeln, dazu das
> beste Baguette zum tunken – mehr braucht man nicht, um Miesmuscheln zu
> genießen
Bild: Ein Kilo reicht für zwei Personen – wenn die Muscheln schon groß genu…
Von Carola Rönneburg
Ein Winterabend, die Kerzen brennen, und das steht auf dem Tisch: ein
Bräter und zwei Suppenteller, jeweils vorgewärmt, ein großer flacher Teller
und ein Korb mit dem besten Baguette, das zu haben war. Es gibt Muscheln!
Und zwar Miesmuscheln von der Fischhändlerin unseres Vertrauens, der die
Kühlkette heilig ist und die nicht glauben kann, dass zwei Personen von
einem Kilo Muscheln satt werden. „Das reicht nicht“, mahnt sie bei jedem
Einkauf.
Sie mag recht haben, wenn es um die kleinsten Größen „Extra“ und „Super…
geht. Diese Muscheln sind 1,5 Jahre alt und machen noch nicht viel her. Ab
der Stufe „Imperial“ über „Jumbo“ bis hin zur 2,5 Jahre alten „Goldm…
stecken jedoch gut gewachsene Weichtiere in den Schalen.
Gezüchtet – vielleicht sollte man besser sagen, angebaut – wird die
Miesmuschel überall dort, wo ihr die Umgebung gefällt. Miesmuscheln sind
zweigeschlechtlich und laichen, teilweise mehrmals im Jahr. Nach 12 bis 40
Tagen schlüpfen die Larven. Sie entwickeln Haftfäden (Byssus), mit denen
sich die Miesmuschel schon immer an alles anklammerte, was ihr im Laufe der
Evolution begegnet ist: Meeresböden und Riffe, Artgenossen und
Schiffsrümpfe. Bis der richtige Ort gefunden ist, können sich die
angehenden Muscheln von ungemütlichen Plätzen wieder lösen und von der
Strömung weitertreiben lassen. Die Haftfäden bilden später den Muschelbart,
dem die Miesmuschel ihren Namen verdankt: „Mies“ ist der mittelhochdeutsche
Begriff für „Moos“.
Wer sie züchten will, muss den Muscheln ein Angebot machen. Oft werden die
Kleinstmuscheln eingeladen, sich vorerst an Leinen festzusetzen, um sie
dann an den eigentlichen Zuchtort zu bringen. In groben Netzen aus Seilen
bilden die sogenannten Saatmuscheln Bänke. In Frankreich wickeln die
Züchter ihre Leinen um Holzpfähle, die hinter der Wasserlinie in den Boden
gerammt sind.
Unsere Miesmuscheln sollen in einem klassischen französischen Sud auf den
Tisch kommen. Ich habe dafür eine mittelgroße Zwiebel halbiert, in feine
Streifen geschnitten und diese eine Viertelstunde lang geduldig in 50 Gramm
Butter auf kleiner Flamme weichgedünstet. Nebenan erhitzt sich der Bräter
mit etwas Wasser. In der Zwischenzeit habe ich frische Petersilienblätter
gehackt, zwei Esslöffel. Anschließend habe ich die Muscheln aus dem
Kühlschrank genommen, kurz abgespült und kontrolliert. Drei haben
angeknackste Schalen, die gehen nicht mit in den Topf. Fünf sind einen
Spalt geöffnet – ich beklopfe sie mit einem Löffel und beobachte, ob sie
darauf reagieren und sich wieder schließen. Sie tun es.
Die meisten europäischen Miesmuscheln wachsen in Spanien auf, vorwiegend in
Galicien. Laut einer EU-Studie produzierte Spanien 2016 ganze 215.948
Tonnen, Deutschland gerade mal ein Zehntel davon, in Niedersachen und vor
allem Schleswig-Holstein. Hier stritten Muschelfischer und Umweltschützer
jahrzehntelang über den Muschelabbau im Nationalpark Wattenmeer. 2015
vermittelte der damalige Landesumweltminister Robert Habeck den
„Muschelfrieden von Tönning“: Die Muschelfischer durften weiterarbeiten,
aber nur noch 12 statt 50 Prozent des Wattenmeerbodens abräumen. Außerdem
wurde die Fläche für Muschelanbau reduziert.
Dass die Muschelzucht kein einfaches Geschäft ist, musste die 2014
gegründete „Kieler Meeresfarm“ erfahren, die eine nachhaltige
Miesmuschelproduktion aufbauen wollte. Stürme trennten ausgewachsene
Muscheln von den Leinen; der Kutter ging kaputt; die Pandemie legte die
Bestellungen aus der Gastronomie lahm. Zudem entdeckten Eiderenten den
Standort. Der stattliche Wasservogel liebt Miesmuscheln und interessiert
sich nicht dafür, ob die Muschel geöffnet ist, wie es andere Fressfeinde
tun – er verschlingt sie komplett, knackt sie gemütlich in seinem Magen und
spuckt die Schalenreste wieder aus. Anfang 2022 fraßen Eiderenten einfach
den gesamten Bestand der Meeresfarm in der Kieler Förde weg.
Meine weichen Zwiebelscheiben lösche ich mit einem halben Glas Weißwein ab,
fülle alles in einen großen Topf um und stelle ihn auf eine recht hohe
Flamme – wenn es den lebenden Muscheln gleich an den Kragen geht, muss es
schnell gehen. Ich gebe die Muscheln in den Topf und setze den Deckel auf.
Direkt an frische Miesmuscheln aus der Region heranzukommen, ist
hierzulande nahezu unmöglich. Über 90 Prozent der deutschen
Miesmuschelproduktion geht sofort nach der Ernte in Kühllastern nach
Yerseke in den Niederlanden. Dort werden die Muscheln sortiert, in
gefluteten Parzellen zwischengelagert und auf Auktionen an Großhändler
versteigert. Nur ein kleiner Teil gelangt gereinigt, entbartet und verpackt
als Re-Import zurück, manchmal sogar mit Bio-Siegel. Wer das Kleingedruckte
liest, wird allerdings feststellen, dass „Bio“ hier lediglich bedeutet, die
Wildhabitate beim Einfangen von Saatmuscheln schonend zu behandeln.
Meine Muscheln sind niederländischer Herkunft und nach sechs Minuten
fertig. Alle haben sich geöffnet, ich muss keine ungeöffnete wegwerfen. Ich
kippe das Wasser aus dem Bräter und schippe sie mit einem Schaumlöffel
hinein – Deckel drauf. Der Sud im Topf ist durch das Meerwasser aus ihnen
reichhaltig und gesalzen. (Nie, nie unbedacht nachsalzen!) Jetzt koche ich
ihn noch etwas ein, gebe ich die Petersilie hinzu, etwas Pfeffer und rühre
fix noch einmal 50 Gramm kühle Butter unter. Den Sud gieße ich über die
Miesmuscheln, der Bräter geht an den Tisch. Wir werden essen und uns über
den Geschmack der Muscheln freuen. Wir werden reden, begeistert Brot in die
Sauce tunken und einen Schalenturm auf dem flachen Teller bauen.
9 Dec 2023
## AUTOREN
Carola Rönneburg
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