# taz.de -- Hagai Dagan Fernsicht – Israel: Die Väter des Zionismus haben do… | |
Die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober und der Krieg im Gazastreifen | |
haben nicht nur das Leben der Israelis, die in Israel leben, aufgewühlt, | |
sondern auch das der Israelis, die wie ich in Berlin leben. Einer liberalen | |
Gemeinde, von denen die meisten der israelischen Linken angehören. Viele | |
sind aus Israel weggezogen, weil sie nach Jahren, in denen das Land immer | |
rechter, religiöser und weniger tolerant gegenüber Minderheiten wurde, das | |
Gefühl hatten, dort keine Luft mehr zu bekommen. Berlin erschien ihnen als | |
eine tolerante Stadt, die Meinungspluralität und kulturelle Vielfalt | |
willkommen heißt. Hier, so die Hoffnung, würden wir wieder aufatmen können. | |
Die israelische Linke hat immer nach einer friedlichen Koexistenz mit den | |
Palästinensern gestrebt, doch in Israel, wo die nationale Polarisierung so | |
dominant ist, war das nicht möglich. Die Israelis in Berlin haben ihrer | |
nationalen Identität nicht abgesagt, aber sie stellten sich ein Leben in | |
dieser Stadt vor, das ihnen neben der kulturellen Identität ermöglichen | |
würde, eine kosmopolitische Denkweise anzunehmen. | |
Schon im 19. Jahrhundert lebten in Deutschland nicht wenige Juden, die | |
weltoffene Haltungen vertraten. Die Väter des Zionismus verspotteten diese | |
jüdischen Kosmopoliten. Sie waren der Ansicht, dass das Judentum als | |
nationale oder gar Stammesidentität Ausdruck finden müsse und dass der | |
Kosmopolitismus ein Luxus sei, den sich der moderne Mensch nicht leisten | |
könne. Mancher erklärte sarkastisch, dass die Juden ohnehin die einzigen | |
Kosmopoliten der Welt seien. | |
Die erschreckenden Ereignisse des vergangenen Monats zeigen, dass die Väter | |
des Zionismus recht hatten. Wir rücken zusammen in unserer | |
Stammesidentität. Ich selbst erlebe eine Art Persönlichkeitsspaltung. | |
Einerseits lehne ich Sprache und Methode des israelischen Patriotismus | |
komplett ab, auf der anderen Seite befinde ich mit in diesem mentalen | |
Bunker, in dem sich mein Stamm jetzt drängelt. Die Israelis fühlen sich | |
nicht nur von der Hamas bedroht, sondern auch von den weltweit riesigen | |
Wellen der Solidarität mit der Hamas, vor allem in den Reihen der Linken. | |
Unter den linken Israelis, die sich der globalen Linken nah fühlen, macht | |
sich eine Entfremdung breit, das Gefühl, verraten worden zu sein, und vor | |
allem große Einsamkeit. Dies ist eine Zeit der Parteinahme, der mentalen | |
Aufrüstung und Loyalitätsbekundungen. | |
Trotzdem gibt es selbst jetzt die, die diese Dychotomie ablehnen und sich | |
weigern, vor der Identifikation mit dem Stamm zu kapitulieren. So nahmen | |
zwei meiner Freunde an einer Solidaritätskundgebung mit Gaza teil. Nicht | |
mit der Hamas, sondern mit der leidenden Zivilbevölkerung dort. Die beiden | |
positionierten sich einerseits klar gegen die Bluttaten der Hamas, | |
andererseits demonstrierten sie ihr Mitgefühl für die Zivilbevölkerung im | |
Gazastreifen. „Juden mit Gaza“, stand auf dem Schild, das sie mitbrachten | |
und mit dem sie innerhalb kürzester Zeit große Aufmerksamkeit auf sich | |
lenkten. Zahlreiche palästinensische Demonstranten wandten sich an die | |
beiden, wollten Selfies mit ihnen machen, Eltern hoben ihre Kinder hoch: | |
„Seht, solche Juden gibt es auch.“ Eine Frau erklärte unter Tränen der | |
Rührung, dass sie nichts gegen Juden habe, die Hamas nicht unterstützen | |
wolle, nur das schreckliche Leid in Gaza nicht mit ansehen könne. | |
Meinen Freunden ist durchaus klar, dass an diesen Demos viele | |
Hamas-Sympathisanten und Judenhasser teilnehmen. Trotzdem war es ihnen | |
gerade jetzt wichtig, am Humanismus festzuhalten und an der Koexistenz, | |
anstatt sich dem polarisierenden und destruktiven Tribalismus hinzugeben. | |
Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul | |
18 Nov 2023 | |
## AUTOREN | |
Hagai Dagan | |
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