# taz.de -- Annabelle Hirsch La Strada: Als der Mond noch mit einer Leiter zu e… | |
Seit einigen Wochen schwebt in Rom in der Via Ventiquattro Maggio ein Mann | |
über der Straße. Man sieht ihn, wenn es dunkel wird, also ab fünf Uhr | |
nachmittags. Er trägt einen Anzug oder genauer: einen Frack, eine gerade | |
Hose und Lackschuhe. Der Herr befindet sich in einer kuriosen Situation: | |
Nicht nur schwebt er über der Straße, was an sich ja schon recht komisch | |
ist, er steht zudem auf einem leuchtenden Ball, einer Art kreisenden | |
Planeten. An seinen zur Seite ausgebreiteten Armen hängen Ringe, die | |
ebenfalls leuchten und die eine Bewegung, ein Kurbeln suggerieren. | |
Ansonsten wirkt er, als würde er auf seiner Kugel tanzen. Um ihn herum | |
funkeln Sterne, Monde und ähnliche Himmelskörper. | |
Anfangs dachte ich, dies sei eine Weihnachtsdekoration. Die erste und | |
komischerweise einzige der ganzen Stadt. Mitten im Oktober mit Weihnachten | |
beginnen und dann ausgerechnet einer Straße, die kein einziges Geschäft | |
führt, schien mir unlogisch, wenn man bedenkt, das solche Deko auch an die | |
zu machenden Geschenke erinnern soll. Komisch, dachte ich, aber warum | |
nicht. | |
Nun habe ich vor Kurzem erfahren, was es damit tatsächlich auf sich hat. | |
Ich war bei Bekannten eingeladen, deren Wohnung lustigerweise genau dort | |
liegt, wo der Mann in der Luft schwebt und tanzt. Von ihrem Fenster aus | |
kann man ihn sehen, wie er in der Dunkelheit leuchtet. Dieser Herr, so | |
erklärten sie mir, sei keine verfrüht platzierte Weihnachtsdekoration, | |
sondern ein Kunstwerk: Eine Lichtarbeit des Künstlers Giulio Paolini, eine | |
Hommage an den italienischen Schriftsteller Italo Calvino, dessen | |
hundertster Geburtstag gerade mit einer Ausstellung im Museum „Scuderie del | |
Quirinale“ gefeiert wird. Die Installation heißt Palomar, so wie die Figur | |
aus seinem letzten Roman. | |
## „Herr Palomar“, sagt man, sei Italo Calvino ähnlich | |
Man sagt, „Herr Palomar“ sei Calvino am ähnlichsten gewesen, eine Art Alter | |
Ego. Palomar ist amüsant, rührend und macht komische Dinge. Er beobachtet | |
zum Beispiel stundenlang eine Welle. Nicht „die Wellen“, sondern eine | |
einzige. Er steckt ihren Radius genau ab, will ihrer Essenz auf den Grund | |
gehen, es genau wissen. Herr Palomar ist hartnäckig. | |
Er ist aber auch weich, er hat Sinn für Poesie. Als er entdeckt, dass die | |
Pantoffeln, die er auf einem Markt erworben hat, ungleich sind, dass der | |
eine passt und der andere viel zu groß ist, ärgert er sich nicht lange, | |
sondern denkt sofort an die Person, die das andere unpassende Paar gekauft | |
hat und nun ebenso wie er feststellt, dass die Stücke ungleich sind. Er | |
beschließt, die Pantoffeln in Solidarität mit diesem unbekannten | |
Leidensgenossen zu tragen und damit eine feine Brücke zu bilden, zwischen | |
zwei Menschen, die irgendwo auf der Welt mit zwei unterschiedlich großen | |
Schuhen durch die Gegend schlurfen. | |
Auf welche Geschichte genau das Kunstwerk über der Straße verweist, ist | |
unklar. Vielleicht auf die Geschichte des Mondes des Nachmittags. Niemand | |
beobachte ihn, heißt es in Palomar, dabei würde gerade er, der langsam | |
auftretende Nachmittagsmond, unsere anfeuernden Blicke brauchen. Vielleicht | |
verweist es aber auch gar nicht nur auf Palomar, sondern auch auf andere | |
Werke. Die „Cosmicomics“ zum Beispiel. Die erste Geschichte dieser | |
unglaublich schönen Sammlung, „Entfernung des Mondes“, erzählt davon, dass | |
der Mond der Erde einst so nah war, dass man mit einer Leiter zu ihm | |
hochsteigen konnte. Man fuhr mit einem Boot raus aufs Wasser und kletterte | |
hinauf. Bis der Mond sich eines Tages relativ unerwartet zu entfernen | |
begann. Ein Mann, der gerade aufgestiegen war, begann zu laufen und mit den | |
Armen zu kurbeln, um sich vom fliehenden Mond loszureißen. Seine Geliebte | |
schaffte den Absprung nicht, sie blieb fortan auf dem anderen Planeten. Es | |
ist sehr melancholisch aber auch sehr schön. | |
Vor Kurzem sagte mir jemand, „Cosmicomics“ von Calvino sei ihm zufolge der | |
schönste Liebesroman aller Zeiten. Vielleicht steht die Lichtskulptur auch | |
dafür: für ein sehr feinsinniges und poetisches Weihnachtsgeschenk. | |
Die Autorin lebt in Rom. | |
14 Nov 2023 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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