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# taz.de -- Holy Shit
> Wieso wir dringend eine Sanitärwende brauchen
von Annette Jensen
Die Kanalisation gilt als eine der größten Errungenschaften der Moderne. In
London entstand sie ab 1858 in der unvorstellbar kurzen Bauzeit von nur
acht Jahren, nachdem das Parlament im Eilverfahren die damals gigantische
Summe von 3 Millionen Pfund für das Vorhaben bewilligt hatte. Der
bestialische Gestank der Themse in jenem ungewöhnlich heißen Sommer, der
als The Great Stink in die Geschichte eingegangen ist, und die Angst vor
der Cholera, die in mehreren Wellen die rasch wachsende Metropole
heimsuchte, bewegten die Parlamentarier zu ihrer Entscheidung.[1]
Das Londoner Abwassersystem wurde zum Vorbild für ganz Europa und
Nordamerika. Doch das gesamte Abwasser durch ein einziges Rohrsystem
abzutransportieren, erwies sich im Nachhinein als fatal. In den Rohren
mischen sich Kot und Urin mit Putzmitteln, Pillen und Kosmetikresten,
Schwermetallen aus der Industrie sowie Mikroplastik aus Reifenabrieb. Dazu
entsorgen Leute alles Mögliche ins WC – Katzenstreu, Farbreste oder
Zigarettenkippen.
Mittels Filtern, biologischen Klärbecken und Chemiekeulen wird versucht,
das mit vielfältigen Stoffen belastete Wasser zu reinigen. Dass dabei
extrem viel Strom und Frischwasser verbraucht wird, gilt in der sich selbst
als Umwelttechnik verstehenden Branche als unhinterfragbare Notwendigkeit.
Zurzeit diskutiert die EU über eine vierte Klärstufe, die Medikamentenreste
und Mikroplastik aus dem Abwasser entfernen soll.[2]770
Arzneimittelwirkstoffe wurden bereits in Oberflächengewässern und zum Teil
sogar im Grundwasser nachgewiesen. Die Folgen sind nur punktuell bekannt.
Antidepressiva verändern das Verhalten und die Körperfunktionen von
Amphibien. Geringe Mengen eines Verhütungsmittels können ganze Ökosysteme
zum Kippen bringen. Und Mikroplastik wurde schon in menschlichen Gehirnen
und Plazentas gefunden.
In Milliarden von Jahren hat die Natur Wasser immer und immer wieder
genutzt – und es blieb stets sauber. Heute ist es durch menschliche
Aktivitäten weltweit verschmutzt. Zwar gelang es mit Hilfe der
Kanalisation, die Cholera aus Europas Städten zu verbannen. Doch alle
Schadstoffe zu vermischen, war keine schlaue Idee.
Mit immer neuen Techniken sollen die Folgen nun gemindert werden.
Infrastruktur und Betrieb sind extrem teuer und können schon deshalb kein
Vorbild für die ganze Welt sein. Außerdem benötigen Schwemmkanalisationen
viel Wasser für den Transport. In Zeiten, in denen fast 1,5 Milliarden
Menschen in Gebieten mit hoher Wasserunsicherheit leben und es auch in
Europa immer trockener wird (siehe den Artikel von Stefano Liberti auf
Seite 15), erscheint es geradezu absurd, Fäkalien mit Trinkwasser
wegzuspülen.
Dass es grundlegender Veränderungen bedarf, wird bislang jedoch nicht
diskutiert. Schließlich ist das Thema unappetitlich und die Kanalisation
die
7 Dec 2023
## AUTOREN
Annette Jensen
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