# taz.de -- Ausgehen und rumstehen Fabian Schroer : Auf der Suche nach dem alte… | |
Westdeutsche Städte sind zu sauber“, hat der Vater von J. einmal zu mir | |
gesagt. Ich muss daran denken, als ich am frühen Samstagnachmittag mit dem | |
Fahrrad von Neukölln nach Prenzlauer Berg fahre. Das mache ich nicht so oft | |
und bin daher immer ein bisschen überrascht, wie geleckt hier alles | |
aussieht. Ich stelle mein Rad ab, grummle ganz leise „scheiß Prenzlauer | |
Berg“ und setze mich dann in eins der schrecklichen Cafés auf der | |
Oderberger Straße. Neben mir sitzen Amerikaner in Wachsjacken. Ein Strammer | |
Max mit Käse kostet 13,50 Euro. | |
Mit Blick auf die strahlenden Altbauten muss ich unwillkürlich an [1][die | |
Arte-Doku „Capital B“] über den Ausverkauf Berlins denken, die ich kürzli… | |
gesehen habe. Ich denke daran, wie abgewrackt es nach der Wende hier | |
gewesen sein muss, an die Hausbesetzer und die westdeutschen | |
Immobilienfritzen und daran, dass es bestimmt keine Ossis waren, die die | |
Gründerzeitfassaden so schön glattgebügelt haben. | |
Ich radle weiter Richtung Mitte. Der Vorplatz der Alten Nationalgalerie ist | |
gefüllt mit Touris, die in blauen Steppwesten dem Wind trotzen und für die | |
letzten Stunden von [2][„Secessionen: Klimt, Stuck, Liebermann“] anstehen. | |
Gustav Klimt kenne ich hauptsächlich aus dem bordeauxrot gestrichenen Flur | |
meiner Nachbarin in den Neunzigern. Dort hing wohl ein Druck von „Der Kuss“ | |
an der Wand. Wahrscheinlich stand auch irgendwo ein Buddha rum. | |
Gegenüber dem Platz, an einem Pfeiler der Friedrichsbrücke, steht ein | |
Mädchen in pinker Printleggins in der Kälte und spielt Leonard Cohens | |
„Hallelujah“ in Dauerschleife. Zwischendurch kommt ein Junge im hellblauen | |
Tracksuit um die Ecke und leert den Geigenkasten der Kleinen aus. Die | |
Düsseldorfer Touris in der Schlange werden langsam ungeduldig, weil das | |
Museum in zwei Stunden seine säulenbewährten Pforten schließt. | |
Gegen 22 Uhr treffe ich J. vor dem stinkenden Eingang des West Germany am | |
Kotti. Hier feiern heute Hello Pity das Release ihres neuen Albums „Naked“. | |
J. und ich steigen durch das vollgepisste Treppenhaus hoch in den zweiten | |
Stock des Plattenbaus, betreten das gekachelte und wahllos mit | |
Sperrmüllmöbeln bestückte Venue und kaufen uns zwei Pilsener Urquell zu je | |
2,50 Euro. | |
Rasp Thorne und Nil Wu Ming, die gerade spielen, sehen aus wie Dr. Frank N. | |
Furter auf Crack und ein mehrgewichtiger Jedi-Ritter. Der Noise-Sound aus | |
Nils E-Bass und Modular-Synthesizern dröhnt mir arhythmisch in den Ohren, | |
währen Rasp Unverständliches in ein altes Röhrenmikrofon schreit. Dabei | |
wälzt er sich im Tanga auf den dreckigen Fliesen, schüttet sich | |
Rotkäppchen-Halbtrocken über den Kopf und schlägt zwischendurch mit einer | |
eisernen Kugel auf eine Mülltonne. Keiner scheint zu nah bei der Bühne | |
stehen zu wollen. Ich fange an zu grinsen. | |
„Irgendwie ist das hier wie Weggehen vor zehn Jahren“, sagt J. mit einer | |
Zigarette im Mund auf dem völlig versifften Balkon des Clubs. Ihre Augen | |
strahlen. Gegenüber auf den Betonfassaden leuchten die Graffiti im Neon der | |
Straßenlaternen. | |
Danach lassen wir uns vom Psych-Post-Punk von Hello Pity wegpusten. Der | |
Druck, den die vier Jungs mit Gitarren, Bass und Drums erzeugen, lässt die | |
weißen Kacheln vibrieren. Sie bilden eine Einheit, hören einander zu, alles | |
ist on Point. Aufgewärmt und glücklich verlasse ich mit J. den | |
schmuddeligen Laden in Richtung Rio-Reiser-Platz. | |
In einer Szene der „Capital B“-Doku beschwert sich eine Anwohnerin in | |
Friedrichshain über die dahergelaufenen Wessis, die Häuser besetzen, | |
Remmidemmi machen und die Straßen verdrecken. Ein bisschen kann ich sie | |
verstehen. Den Charme hinter dem Dreck empfinden meist vor allem die Leute, | |
die frei entschieden haben, drin zu leben. Aber was soll man sagen? Der | |
Dreck ist ja inzwischen weg. Und die Frau bestimmt auch. Und ja, auch ich | |
wohne in einem sanierten Altbau. | |
17 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Schroer | |
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