# taz.de -- orte des wissens: Ein ethischer Kompass für die Mint-Fächer | |
> Das Lübecker Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung | |
> sensibilisiert Studierende der Naturwissenschaften für gesellschaftliche | |
> Fragen | |
Big Data ist schneller als jeder Arzt. Die Patientin gibt ihren | |
Krankheitsverlauf in den Computer ein, Sekunden später tickert die KI eine | |
Diagnose ins Textfeld. Dazu gibt es auch gleich das passende Medikament. | |
Wird so in naher Zukunft ein Arztbesuch aussehen? | |
Nicht ganz, sagt der Direktor des Instituts für Medizingeschichte und | |
Wissenschaftsforschung (IMGWF) der Uni Lübeck, Cornelius Borck. Schon heute | |
helfen Daten und Algorithmen, die Medizin zu verbessern, weil Maschinen | |
nicht müde werden und sich alles merken. Doch die Lebensqualität verbessern | |
können sie nur, wenn sie die Situation der PatientInnen einbeziehen, sagt | |
er. „Wir wissen, dass Medikamente nur dann genommen werden, wenn ihre | |
Nebenwirkungen der Lebensführung nicht in die Quere kommen.“ | |
Es reicht also nicht, wenn etwas smart ist, aber nicht andockt an | |
gesellschaftliche Bedürfnisse oder wenn es als unethisch gilt. Gerade die | |
Ethik, sagt Borck, „wird oft als Bremser wahrgenommen“. Das Gegenteil sei | |
der Fall. Denn „häufig ist auch ökonomisch am sinnvollsten, was ethisch am | |
besten überzeugt“. | |
Das Institut dient als Brücke zwischen den medizinischen, technischen und | |
naturwissenschaftlichen Studiengängen der Lübecker Uni und | |
gesellschaftlichen Fragen. Oder, wie Borck es formuliert: „Die Uni hat | |
keine geisteswissenschaftliche Fakultät. Aber wir bringen Reflexion in die | |
Studiengänge.“ Alle Studierenden der Hochschule, zum Beispiel angehende | |
PsychologInnen, MedizinerInnen, ErnährungswissenschaftlerInnen oder | |
MediziningenieurInnen, belegen Lehrveranstaltungen des Instituts. Dort | |
gehen sie in die Vogelperspektive und denken über die Rolle und Stellung | |
ihres Fachs in der Gesellschaft nach. Sie lernen zu Geschichte, Philosophie | |
und Ethik der Medizin, Zeitgeschichte, Techniknutzung und Gender-Fragen. | |
Viele Studierende empfinden es als Bereicherung, sich ein Wertesystem für | |
ihre Disziplin zu erarbeiten. Gleichzeitig vermissen zum Beispiel angehende | |
MedizinerInnen hier klare Antworten und Handlungsanweisungen, die sie aus | |
ihrem Studium gewohnt sind, „sie können Ambivalenzen nicht gut aushalten“. | |
Auf viereinhalb Professuren samt Mittelbau bringen die Mitarbeitenden des | |
Instituts Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen ein, forschen und | |
veröffentlichen Studien. Sie haben sich mit der dunklen Geschichte der | |
Psychiatrien und der Heime in der NS-Zeit, der DDR und auch in der | |
Bundesrepublik befasst. Sie widmen sich schwierigen ethischen Fragen wie | |
Abtreibungspolitik, genetischer Testung oder selbstbestimmtem Sterben. | |
Gleichzeitig baut das Institut eine Brücke in die Stadtgesellschaft. In | |
seinem historischen Haus in der Lübecker Innenstadt bietet es jedes Jahr | |
eine Vorlesungsreihe im „Studium generale“ an und organisiert Symposien. | |
Das Institut ist Mitglied im Zentrum für kulturwissenschaftliche Studien | |
(ZKFL). Hier fand während der Lübecker Museumsnacht eine Tanzperformance | |
zum Thema „Demenz“ statt, zum Jahrestag der iranischen Proteste gestaltete | |
es mit Studierenden der Musikhochschule für 140 Gäste eine Gedenkfeier. | |
Das Zentrum vergibt nach dem „Lübecker Modell“ Stipendien an junge | |
WissenschaftlerInnen. Das bedeutet, dass sie in einer mit einem Volontariat | |
kombinierten Doktorarbeit eng mit Archiven, Museen oder Sammlungen zusammen | |
arbeiten, sagt dessen wissenschaftliche Koordinatorin Birgit Stammberger. | |
Zwei von ihnen arbeiten zum Beispiel in der völkerkundlichen Sammlung und | |
untersuchen, woher deren Stücke kommen und wie sie nach Lübeck gelangten. | |
Provenienzforschung, die nach deutscher Kolonialschuld fragt – ethischer | |
geht es kaum. Friederike Grabitz | |
16 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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