# taz.de -- „Pass auf dich auf“ | |
> Polizeikontrollen und Kleiderordnung – dazwischen Liebe und geheime | |
> Partys im Untergrund. Ein Tag im Leben einer jungen Frau in einem | |
> unterdrückerischen System | |
Bild: In ihrer Kurzgeschichte fragt Gilda Sahebi: Wäre das heutige Deutschland… | |
Eine literarische Kurzgeschichte von Gilda Sahebi | |
Noch ein paar Minuten, bitte noch ein paar Minuten. Anna dreht sich um und | |
zieht die Decke über den Kopf. Aber es klopft schon an der Tür. „Steh auf, | |
mein Schatz!“ „Ich komme“, stöhnt sie. Sie setzt sich an den Bettrand und | |
seufzt. Der Kleiderschrank starrt sie an. Was ziehst du heute an, denkt | |
sie. Gestern wurde Maria festgenommen. Sie hat seit Marias Nachricht, dass | |
sie im Van der Berliner Polizei sitzt, nichts mehr von ihr gehört. Marias | |
Mutter ist seit gestern auf der Polizeistation. „Ich weiß nicht, wo sie | |
ist“, hatte sie weinend gesagt, als Anna sie am Abend anrief. Fuck. | |
Eine Hose? Anna öffnet den Kleiderschrank und nimmt eine ihrer | |
Lieblingshosen heraus: cremefarben, kurz, eng an der Hüfte. Sie sehe darin | |
aus wie ein Hollywood-Sternchen, hatte Sham neulich gesagt. Nun muss sie | |
nur an ihrer Mutter vorbeikommen. Anna greift nach den Tüchern. Nicht, dass | |
es unbedingt etwas retten würde, aber sie fühlt sich sicherer, wenn sie | |
sich schnell ein Tuch um die Hüfte binden kann – die Illusion eines Rocks. | |
Ein orangefarbenes Tuch zur cremeweißen Hose. Im Pyjama verlässt sie ihr | |
Zimmer. | |
Das Frühstück steht schon auf dem Tisch: frische Brötchen, „der Biogouda, | |
den du so magst“, sagt ihre Mutter. Anna hofft, dass ihre Mutter vor ihr | |
los muss. Sie setzt sich an den Tisch und scrollt durch Instagram, während | |
sie das Brötchen isst. Eine Nachricht von ihrer Freundin Sham: Wir feiern | |
heute bei mir. Krass, bei all den Kontrollen in letzter Zeit? | |
In Annas Feed: Ein Video nach dem anderen, wie Leute von der Polizei | |
eingesackt werden. Sie knallt das Handy auf den Tisch. „Ich gehe los. Bist | |
du heute Abend zu Hause?“ „Ich gehe vielleicht zu …“, Anna stockt. „Zu | |
Julia.“ Ihre Mutter hebt die Augenbrauen. „Was macht ihr?“ „Abhängen.�… | |
nimmt ihr Handy wieder in die Hand. Bitte keine Fragen mehr. Die Mutter | |
drückt ihr einen Kuss auf die Wange. „Pass auf dich auf.“ | |
Der Platz der Luftbrücke sieht okay aus. Keine Polizei oder | |
Sicherheitskräfte. Sie läuft zur U-Bahn. Während sie am Gleis wartet, | |
schaut Anna aufs Handy. „Es war schön letzte Nacht“, schreibt Ben. „Sehen | |
wir uns heute Abend bei Sham?“, fragt er. „Oder komm einfach gleich wieder | |
bei mir vorbei.“ Ich bin so verknallt, schreibt sie Sham. | |
Die U-Bahn ist voll. Viele Frauen in Hosen, lang und kurz. Kein Wunder bei | |
der Hitze. Jedes Hosenbein eine kleine Revolution gegen die vorgeschriebene | |
„geschlechterspezifische, traditionell deutsche Kleidung“. Annas Puls wird | |
etwas ruhiger. Die können uns ja nicht alle umbringen, denkt sie. Eine | |
ältere Frau lächelt sie an. Ihr Lächeln legt sich um Annas Herz wie eine | |
weiche Decke. Du schaffst das, denkt sie. Ein Tag nach dem anderen. Sie | |
schreibt eine Nachricht an Marias Mutter: „Gibt es Neuigkeiten?“ | |
Stadtmitte. Hallesches Tor. Hier muss sie raus. Polizei – direkt vor der | |
Tür des Waggons, an dem sie steht. Die Tür geht auf. Niemand steigt aus. | |
Niemand steigt ein. Die Tür schließt sich wieder. Anna atmet aus. Ein | |
bisschen laufen schadet nicht, denkt sie. | |
Ben lässt seine Hand über ihren nackten Rücken gleiten. Sie zuckt zusammen. | |
„Was ist los?“, fragt er. Sie lacht: „Hör bloß nicht auf!“ Er küsst … | |
Nacken: „Du bist so schön, Anna.“ | |
„Träumst du?“ Anna schaut auf. Luise starrt sie an. „Was hast du gesagt?… | |
fragt Anna. „Es gab letzte Nacht wieder Razzien in Neukölln. Fast 200 | |
Menschen wurden die Pässe weggenommen und noch mehr wurden inhaftiert“, | |
wiederholt ihre Arbeitskollegin. Die Organisation, für die Anna arbeitet, | |
bewegt sich immer am Rand der Legalität. Sie wissen nie, wann sie zu weit | |
gehen mit ihrer Hilfe für Menschen, die dem Regime nicht „deutsch“ genug | |
sind, oder die sich weigern, deren Regeln zu folgen. Die Regierung könnte | |
ihre Organisation jederzeit verbieten. Oder ins Gefängnis stecken. Die | |
Angehörigen der Inhaftierten oder Toten zu benachrichtigen – allein das | |
kann schon zu viel Widerstand sein. | |
Diese fucking Razzien, denkt Anna. Für die Sicherheit des Volkes, gegen | |
Clans, bla, bla, bla. Sie hält diese Parolen aus dem Staatsfernsehen nicht | |
mehr aus. Anna denkt an ihre Freundin Canset. Sie war von einem Tag auf den | |
anderen weg. Sie hatten es schon erwartet. Canset und ihre Familie hatten | |
sich versteckt. Anna weiß bis heute nicht, ob sie in einem der vielen neu | |
errichteten Gefängnisse sind oder nicht mehr am Leben. Auch an den Grenzen | |
des Landes sind überall Haftanstalten. Es ist fast unmöglich, Leute, die | |
einmal im System verschwunden sind, wiederzufinden. Anna und die | |
Organisation, für die sie arbeitet, versuchen es trotzdem. | |
„Wer holt die Liste mit den Namen der Verhafteten?“, fragt Anna. „Auf jed… | |
Fall niemand aus dem aktiven Widerstand“, antwortet Luise. „Zu viele | |
Kontrollen heute. Und es ist helllichter Tag.“ Anna steht auf: „Ich gehe.“ | |
Sein Bild starrt von allen Häuserwänden auf sie herunter, den „Führer der | |
Revolution“ nennen sie ihn. „Hey, Schlampe!“ Annas Herz rast. Hat sie | |
Polizei übersehen? Sie dreht sich um. „Hast du keinen Mann, der dir | |
erklärt, wie man sich anständig anzieht, du Fotze?“ Schnell läuft sie | |
weiter. Aus irgendeinem Fenster dröhnt Rechtsrock, der Sound der | |
Revolution. Es ist kaum jemand auf den Straßen. Hat er sie gefilmt? Hatte | |
er ein Handy in der Hand? Fuck, fuck, fuck. Vielleicht sollte sie sich für | |
solche Missionen doch an die Kleiderregeln halten. Sie legt das Tuch um die | |
Hüften. Dann schreibt sie eine Nachricht in den Gruppenchat: An der | |
Sonnenallee Ecke Fuldastraße sind private Kontrolleure unterwegs. | |
Polizeikontrollen am Rathaus Neukölln, liest Anna. Sie steuert in die | |
andere Richtung. Wieder die Fresse des Revolutionsführers. Anna schaut auf | |
den Boden. Viele ahnten früh, was kommen würde. Sie haben Deutschland schon | |
vor der Machtübernahme verlassen. Die, die es nicht geschafft haben, sind | |
tot, in Haft oder im Widerstand. | |
„Du bist so schön, Anna.“ Sogar in dieser Situation kriegt sie ihn nicht | |
aus dem Kopf. Sie lächelt. | |
Als die neuen Gesetze verkündet wurden, war Anna mit Mohammad zusammen. Für | |
die Reinheit des deutschen Volkes – so kündigte die Regierung die Gesetze | |
in den Medien an. Deutsche Frauen sollten deutsche Kinder kriegen und den | |
deutschen Männern dienen. Sie dürften zwar weiter zur Universität gehen und | |
arbeiten, aber ihre erste Pflicht sei der Erhalt des Volkes. Deutschland – | |
aber normal. So hatte alles angefangen. Alles, was „unnormal“ war, war bald | |
verboten. Eins nach dem anderen: Homosexualität in Filmen und im Theater. | |
Freizügigkeit. „Ausländische“ Musik. Freie Berichterstattung. Sexualisier… | |
Gewalt wurde kaum mehr bestraft – offiziell natürlich schon. Aber wen | |
interessieren Gesetze noch. Das Gesetz ist der Mann. | |
Mohammad ist schon lange nicht mehr da. Manchmal telefoniert Anna mit ihm. | |
Er hatte gefragt, ob sie mit ihm geht. Ich will meine Familie nicht | |
verlassen, hatte sie gesagt. | |
Das muss das Haus sein, denkt sie. Sie öffnet die Tür. „Hey!“, klingt es | |
hinter ihr. Anna schreit auf. Jean steht an der Treppe. „Kündige dich das | |
nächste Mal an! Ich habe mich fast zu Tode erschreckt.“ Er grinst. „Sorry.… | |
Jean geht die Treppen hoch, Anna läuft hinterher. „Habt ihr die Listen?“, | |
flüstert sie. „Ja, ich glaube es sind sogar fast alle Namen drauf.“ Im | |
dritten Stock öffnet Jean die Tür zu einer Wohnung. Im Flur stehen Drucker | |
und Computer. Von einem Tisch nimmt er einen Stapel Papier und reicht ihn | |
Anna. „189 Namen. Jetzt habt ihr einiges zum Abtelefonieren.“ 189 | |
Vermisste. | |
Maria liegt auf dem Rücken im Bett und starrt an die Decke. „Sie hat noch | |
nicht viel gesagt, seit sie zurück ist“, sagt die Mutter. Sie stehen in der | |
Tür zu Marias Zimmer. Anna setzt sich auf das Bett. „Darf ich dich in den | |
Arm nehmen?“, fragt sie. Maria schüttelt den Kopf. Anna legt sich neben | |
sie. „Wir dachten, wir sehen dich nie wieder.“ Maria nimmt Annas Hand. Ihre | |
Tränen laufen seitlich aufs Kissen. „Ich mache trotzdem weiter, was ich | |
will. Diese Wichser können mich so oft zusammenschlagen, wie sie wollen.“ | |
Anna weiß nicht, ob sie fragen soll. Lieber nicht, denkt sie. Maria wird | |
erzählen, sobald sie kann. | |
„Du bist nicht schuld, das weißt du“, sagt Anna leise. „Egal, was die mit | |
dir gemacht haben.“ Als Anna das erste Mal mitgenommen wurde, sagte der | |
Polizist zu ihr: Wenn du dich anziehst wie eine Hure, behandeln wir dich | |
wie eine Hure. Maria drückt Annas Hand. „Ich komme heute mit auf die | |
Party“, sagt Maria. Anna lacht. Maria schaut sie an. Sie lachen zusammen. | |
Was soll man sonst tun? | |
Zum Glück wissen alle, wie man die Internetsperren umgeht. Online hört Anna | |
weiter Podcasts aus den USA – von den „Imperialisten“ – und freien Teil… | |
Europas. Und ohne ihre Musik würde sie wohl nur noch depressiv im Bett | |
liegen. Gerade dröhnt Rap aus den Boxen. Sham verteilt Drinks. Es fühlt | |
sich fast normal an. Ben wollte eigentlich schon lange da sein. „Auf uns | |
Frauen, Queers und People of Color!“, ruft Sham, alle heben die Gläser. | |
Anna hat Sham gebeten, allen zu sagen, auf Maria zu achten. Weil man bei | |
Psychotherapeut*innen nie weiß, ob die einen denunzieren, sind sie | |
jetzt alle füreinander Therapeut*innen. „Hey.“ Eine Hand legt sich sanft | |
auf Annas Schulter. Sie dreht sich um. Ben. Sie küsst ihn. | |
Am nächsten Morgen öffnet Annas Mutter die Wohnungstür. Zwei Polizisten | |
stehen im Treppenhaus. „Es geht um Ihre Tochter.“ | |
15 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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