# taz.de -- Arbeiter zu Volkskapitalisten? | |
> Die Wissenschaft profitiert von der Volkswagenstiftung. Ihrer Gründung | |
> ging die Privatisierung des einst staatlichen VW-Konzerns voraus | |
Die Volkswagenstiftung ist in Deutschland wichtigste Fördererin der | |
Wissenschaften. 2022 hat sie Hochschulen und andere wissenschaftliche | |
Einrichtungen mit mehr als 330 Millionen Euro unterstützt. Aktuell gibt es | |
die Förderbereiche Exploration, gesellschaftliche Transformation sowie | |
Wissen über Wissen – Reflexion und Praxis der Wissenschaften. Die | |
wissenschaftliche Leitung der Volkswagenstiftung ist frei in der Vergabe | |
der Gelder, sie arbeitet unabhängig von der Geschäftsleitung des | |
VW-Konzerns. Vor allem die Lebenswissenschaften profitieren von der | |
Volkswagenstiftung, gefolgt von den Gesellschafts-, den Geistes-, den | |
Natur- und den Technikwissenschaften. Das Geld stammt aus der Anlage des | |
Stiftungskapitals in Höhe von 3,4 Milliarden Euro sowie aus | |
Dividendenzahlungen auf die Volkswagenaktien, die das Land Niedersachsen | |
hält. | |
Die Volkswagenstiftung ist das Ergebnis eines erbitterten Streits in der | |
Nachkriegszeit über die Zukunft des einst staatlichen Volkswagenkonzerns. | |
Als die britische Militärregierung 1949 das Volkswagenwerk in Wolfsburg an | |
deutsche Stellen übergab, nahmen sowohl das Land Niedersachsen als auch der | |
Bund für sich in Anspruch, das alleinige Sagen zu haben. Die von der CDU | |
geführte Bundesregierung sprach sich für die Privatisierung aus. Die SPD | |
als größte Oppositionspartei hatte andere Pläne: Sie wollte das komplette | |
Volkswagenwerk in eine Stiftung überführen, deren Ziel es sein sollte, | |
sowohl die Bevölkerung mit billigen und guten Autos zu versorgen sowie mit | |
den Überschüssen den technischen Nachwuchs zu fördern und den zweiten | |
Bildungsweg auszubauen. | |
Schließlich stimmte das SPD-regierte Niedersachsen einem Vergleich zur | |
Umwandlung der Volkswagen GmbH in eine Aktiengesellschaft zu, mit dem es | |
sich einen 20-prozentigen Aktienanteil sicherte. Zudem wurde die Gründung | |
der Stiftung Volkswagenwerk mit Sitz in Hannover beschlossen. Auch für die | |
aus CDU, CSU und DP (Deutsche Partei) bestehende Bundesregierung war ihre | |
Gründung ein Kompromiss – sie wollte das Geld aus dem Aktienverkauf | |
eigentlich als Sondervermögen bei einer späteren Wiedervereinigung | |
Deutschlands einsetzen. | |
Im Januar 1961 begann der Verkauf von VW-Aktien. „Stadt im Börsenfieber“ | |
titeln die Wolfsburger Nachrichten in einem Rückblick und liefern Zahlen: | |
Die 63.484 Beschäftigten von Volkswagen durften jeweils bis zu zehn Aktien | |
erwerben – etwa die Hälfte machte davon Gebrauch, während die andere Hälfte | |
sich mit einer Gratisaktie begnügte. Alle übrigen Interessenten durften bis | |
zu drei Aktien kaufen, und zwar auch nur, wenn ihr Jahreseinkommens nicht | |
über 8.000 Mark für Alleinstehende beziehungsweise 16.000 Mark für Ehepaare | |
lag. So sollte der Besitz weit gestreut und kleine Sparer sollten zu | |
Volkskapitalisten werden. Bundesschatzminister Hans Wilhelmi (CDU) feierte | |
den Verkauf der Aktie an 1,5 Millionen Personen als großen Erfolg, durch | |
den „Klassenkämpfer von einst zu Wirtschaftsbürgern von heute“ gemacht | |
würden. | |
Die Realität sah anders aus: Nach einer Erhebung der Deutschen Bank waren | |
unter den Käufern rund 7 Prozent Arbeiter, aber 30 Prozent Angestellte und | |
23 Prozent Hausfrauen, die nicht selten im Auftrag von Geldgebern als | |
Strohmänner beziehungsweise Strohfrauen agierten. Die meisten spekulierten | |
wegen des niedrigen Ausgabekurses von maximal 315 Euro pro Aktie auf | |
schnelle Kurssteigerungen beim damals umsatzstärksten deutschen | |
Unternehmen. Damit hatten sie Erfolg: Wer zehn Aktien gekauft hatte, konnte | |
eine Woche nach Börsengang einen Kursgewinn von 3.800 Mark verzeichnen und | |
sich durch den raschen Aktienverkauf einen neuen Volkswagen leisten, auf | |
den man sonst lange hätte sparen müssen. Auf diesem Weg konnten sich | |
finanzstarke Investoren immer mehr VW-Anteile sichern. Sechzig Prozent der | |
Anteile lagen nun in privater Hand, je 20 Prozent hielten das Land | |
Niedersachsen und die Bundesrepublik Deutschland. | |
Heute ist die Porsche Holding mit rund 32 Prozent der Aktien der größte | |
VW-Aktionär, gefolgt von institutionellen (30) und privaten Anlegern (16), | |
dem Land Niedersachsen (12) und der Qatar Holding (10). Der Bund hat seine | |
Anteile Ende der Achtzigerjahre verkauft. Beim Stimmrecht dominiert Porsche | |
mit 53,3 Prozent vor Niedersachsen (20), der Qatar Holding (17) und | |
weiteren Aktionären (9,7). Das Fazit von Rainer Nicolaysen, Professor für | |
Neuere Geschichte an der Universität Hamburg: „Gemessen an den | |
Versprechungen vom ‚Volkskapitalismus‘ erwies sich die Teilprivatisierung | |
des Volkswagenwerks als Misserfolg.“ Joachim Göres | |
9 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Joachim Göres | |
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