# taz.de -- Sibylle Riedmiller, Helferin mit Diplomatenpass: Unter Folter verra… | |
Kurz nach dem Putsch kam ich mit einem Unesco-Job nach Chile, als Mitglied | |
des Berliner Chile-Komitees meine erste Wahl – wegen Allende. Meinen | |
Vertrag unterschrieb ich im August 1973, für Ausreise im Oktober, im | |
September kam dann der Putsch. Ich hätte kündigen können, aber das | |
Chile-Komitee brauchte Leute, die in Chile noch unbekannt waren. Ein guter | |
Freund, Rolf Rosenbrock, kam auch, wir wohnten ein Jahr lang zusammen und | |
spielten zur Tarnung ein Paar. Das Ehepaar Paas lernte ich dort kennen – | |
zusammen nannte man uns im Untergrund die „4 Alemanes“. | |
Leben in Chile nach dem Putsch bedeutete Ausgangssperre, die nächtliche | |
Grabesstille unterbrochen von Schüssen, Hubschrauber flogen niedrig über | |
die Dächer, im Büro am nächsten Tag Einschusslöcher an den Wänden, im | |
Mapocho-Fluss Leichen, die von Anrainern heimlich am Ufer begraben wurden. | |
Die ersten Monate arbeiteten wir vor allem als Fluchthelfer für Amnesty | |
International mit dem damaligen (im Gegensatz zu seinem Nachfolger) | |
humanitär engagierten deutschen Botschafter. Er organisierte zum Beispiel | |
Empfänge, wo wir bedrohte Chilenen fein gekleidet im Auto mitbrachten. Das | |
Militär bewachte den Eingang, merkte aber nicht, wenn hinterher weniger | |
Leute rauskamen. In der Residenz lebten bald bis zu 80 Chilenen mit dem | |
Botschafter in einer großen Wohngemeinschaft, die Matratzen stapelten sich | |
in der Eingangshalle bis an die Decke. | |
Wir arbeiteten auch eng mit der deutschen Presse. Rolf Pflücke, ein | |
Studienfreund und Lateinamerika-Korrespondent deutscher Sender, war sehr an | |
Lageberichten, Kontakten und Zeugenaussagen interessiert, die wir liefern | |
konnten. Seine eindrücklichen Reportagen für die „Tagesschau“ und | |
politischen Magazine sind heute im Erinnerungsmuseum in Santiago zu sehen. | |
Mein Job erforderte Auslandsreisen, ideal für Kurierdienste für den | |
chilenischen Untergrund. Im Unesco-Büro wusste niemand davon, viele | |
chilenische Kollegen waren Anhänger der Junta, und der UN-Arbeitsvertrag | |
verpflichtete zu politischer Neutralität. | |
Nach fast zwei Jahren flog ich auf. Ich hatte für den Generalsekretär der | |
Sozialisten Geld nach Chile geschmuggelt, 45.000 Dollar. Am Treffpunkt für | |
die Übergabe überfielen mich vier Agenten des Geheimdienstes. Sie sprangen | |
zu mir ins Auto, zogen mir eine Kapuze über, hielten mir eine Knarre an den | |
Kopf, griffen sich das Geld und wir fuhren aus der Stadt. Mitten in der | |
Wüste ließen sie mich stehen, es ging ihnen offenbar nur ums Geld, mein | |
Diplomatenpass half auch. | |
Hinterher hörte ich, dass der Generalsekretär inzwischen verhaftet worden | |
war und mich wohl unter Folter verraten hatte. Ich musste sofort ausreisen. | |
Jahrzehnte später erfuhren wir, dass er mit vielen uns bekannten Chilenen | |
in der deutschen Sektenkolonie Colonia Dignidad unter Folter umgebracht | |
wurde. | |
Protokoll: Martin Kaluza | |
8 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaluza | |
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