# taz.de -- Kolonialverbrechen im vergessenen Archipel | |
> Der bekannte Menschenrechtsanwalt Philippe Sands dokumentiert mit seinem | |
> neuen Buch, wie Großbritannien die Rückgabe der Chagos-Inseln verweigerte | |
> und den Kolonialismus noch immer nicht überwunden hat | |
Von Otto Langels | |
1973 deutete alles auf ein Ende des Kolonialismus hin: Die USA zogen sich | |
aus Vietnam zurück, Frankreich und Großbritannien hatten ihren früheren | |
Kolonien – zum Teil nach langen, blutigen Befreiungskämpfen – die | |
Unabhängigkeit gewähren müssen. Doch im Frühjahr 1973 wurde eine kleine | |
Inselgruppe im Indischen Ozean zum Schauplatz einer unfassbaren | |
Deportation. | |
Eines Frühlingstages holten die britischen Behörden ohne Vorwarnung alle | |
Bewohner aus ihren Häusern. Sie durften einen einzigen Koffer mitnehmen und | |
mussten ein Schiff besteigen, das sie tausend Meilen entfernt nach | |
Mauritius brachte. Die Insel werde zum „Sperrgebiet“, teilte man ihnen | |
lapidar mit. | |
Kurz vor der Unabhängigkeit der damaligen britischen Kolonie Mauritius im | |
Jahr 1968 hatte Großbritannien dem afrikanischen Land den Chagos-Archipel | |
im Indischen Ozean willkürlich abgepresst: die Unabhängigkeit von Mauritius | |
gegen die Preisgabe von Chagos für lächerliche drei Millionen britische | |
Pfund. Die Betroffenen fragte niemand. Fünf Jahre später existierte eine | |
neue Kolonie, genannt „Britisches Territorium im Indischen Ozean.“ | |
Der Engländer Philippe Sands, Anwalt und Professor für Internationales | |
Recht in London, bekannt geworden durch seine ausgezeichneten Bücher | |
„Rückkehr nach Lemberg“ und „Die Rattenlinie“, schildert eindrücklich… | |
empörenden Vorgänge eines neokolonialistischen Aktes, der an finstere | |
Zeiten imperialer Herrschaft erinnert. Als juristischer Berater von | |
Mauritius lernte Sands frühere Bewohner von Chagos kennen. Insofern ist die | |
„Letzte Kolonie“ auch ein sehr persönliches Buch, geschrieben mit großer | |
Sympathie für die Chagossianer. Allerdings erfährt man wenig über ihr | |
Zwangsexil auf Mauritius und die Umstände eines Lebens in Slums. | |
Bis zum Sommer 1973 war die gesamte Bevölkerung des Chagos-Archipels, rund | |
1.500 Menschen, deportiert worden. Zurück blieben Häuser, Mobiliar und | |
Tiere. Die Hunde wurden vergast und verbrannt. Um ihr Vorgehen zu | |
rechtfertigen, bediente sich die britische Regierung eines Tricks. | |
„Um eine Lösung nie verlegen, behaupteten die Briten, dass alle | |
Chagossianer lediglich ‚Vertragsarbeiter‘ seien, nicht Bewohner mit | |
Familien, von denen viele schon seit Generationen auf den Inseln lebten. | |
Wir müssen ‚sehr hart‘ sein, entschied das britische Außenministerium.“ | |
Alle Bewohner, selbst kleine Kinder, wurden kurzerhand zu Vertragsarbeitern | |
erklärt und waren damit autonomie- und rechtlos; die alte, überhebliche | |
Arroganz der Kolonialmacht gegenüber einem „unbedeutenden Inselvolk“. | |
Diego Garcia, die größte Insel des Chagos-Archipels, verpachtete | |
Großbritannien für 50 Jahre an die USA, die dort eine der größten | |
Militärbasen weltweit errichteten und unter anderem für die Bombardierung | |
Bagdads im Jahr 2003 nutzten. Was folgte, war ein jahrzehntelanges | |
juristisches Ringen auf internationaler Bühne: War die willkürliche | |
Abtrennung des Chagos-Archipels von Mauritius rechtens? War es | |
völkerrechtlich zulässig, dass die Bevölkerung des Archipels zum Spielball | |
der Großmächte wurde? Mit anderen Worten: Konnte Großbritannien in einer | |
Epoche der Dekolonisierung eine neue Kolonie errichten? | |
Philippe Sands zeichnet akribisch nach, wie Mauritius vor der | |
Vollversammlung der Vereinten Nationen, dem Internationalen Seegerichtshof | |
in Hamburg und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag den britischen | |
Souveränitätsanspruch auf die Chagos-Inseln bestritt – trotz der | |
verwickelten juristischen Materie anschaulich und spannend geschriebene | |
Kapitel. | |
Im Februar 2019 entschied der Internationale Gerichtshof, dass die | |
Abtrennung von Chagos offenkundig willkürlich und illegal war, die Insel zu | |
Mauritius gehörte und Großbritannien den Archipel unverzüglich aufgeben | |
müsse. Doch Großbritannien ignorierte die Entscheidung des Gerichts und | |
weigerte sich, Chagos aufzugeben. Der Autor wirft Briten und Amerikanern | |
Doppelmoral vor: „Die Beteuerung, dass die Achtung des Rechtsstaatsprinzips | |
einer der ‚am meisten geschätzten demokratischen Werte‘ sei, klingt hohl. | |
Was ist mit Chagos? Während Großbritannien Russlands widerrechtliche | |
Besetzung der Ukraine beanstandet, besetzt es selber weiterhin | |
widerrechtlich einen Teil von Afrika.“ | |
Erst im November 2022 vollzog die britische Regierung einen Kurswechsel und | |
erklärte sich bereit, mit Mauritius über die Souveränität des | |
Chagos-Archipels zu verhandeln. Die Details einer Vereinbarung wie | |
eventuelle Kompensationen für die Vertriebenen und die Zukunft der | |
Militärbasis sind noch offen. | |
An dieser Stelle endet Philippe Sands’vorzügliche Darstellung; ein | |
facettenreiches und bisweilen anrührendes Buch. | |
2 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Otto Langels | |
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