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# taz.de -- Endstation Asphalt
> In Deutschland sterben jedes Jahr viele Millionen Tiere auf den Straßen.
> Doch niemand weiß genau, wie viele, welche Arten und wie der Verkehr das
> Wildleben beeinflusst. Wer nach Antworten sucht, stößt auf starre
> Strukturen
Bild: EinTurmfalke als Verkehrsopfer auf der Straße
Von Friederike Walch-Nasseri
Auf dem Standstreifen liegt ein platter Haufen aus grau-bräunlichem Fell.
„Das hat auch mal gelebt“, sagt Michael Huth. Er bremst langsam ab und
bringt den kleinen Transporter am Straßenrand zum Stehen. Daneben donnert
ein Lkw nach dem anderen über den Berliner Ring. Huth öffnet die Fahrertür,
in die Kabine schwappt tosender Autobahnlärm. Er schaut über die Schulter,
steigt aus, holt eine Schaufel aus dem Anhänger und kratzt den Fellfladen
vom Asphalt. Mit dem Kadaver auf der Schippe steigt Michael Huth über die
Schutzplanke, überquert den Grünstreifen am Straßenrand und hebt das tote
Tier vorsichtig über den Maschendrahtzaun. Zurück im Wagen greift er
wortlos nach einer kleinen Tastatur, die mit dem Bordcomputer verbunden
ist, und tippt: M-a-r-d-e-r.
Michael Huth ist Streckenwart, seit mehr als 30 Jahren arbeitet er bei der
Autobahnmeisterei Rangsdorf bei Berlin. Jeden Tag kontrolliert er mit einem
Kollegen Streckenabschnitte in seinem Zuständigkeitsbereich. Insgesamt 170
Kilometer hin und zurück, plus Auf- und Ausfahrten. „Der eine lenkt, der
andere denkt“, sagt Huth. Mit dem Bordcomputer werden Schäden aufgenommen:
Verbeulte Schutzplanke, Loch im Zaun, verbogenes Straßenschild, Hitzeblasen
auf dem Asphalt – und tote Tiere. Wenn Letztere am Straßenrand liegen,
haben sie in der Regel einen brutalen, oft auch qualvollen Tod hinter sich.
Obwohl alle Strecken der Autobahnmeisterei Rangsdorf mit Zäunen und Mauern
gesäumt sind, haben Huth und sein Team im Erhebungsjahr 2021 rund 160
größere Verkehrsopfer aufgenommen. Darunter vor allem Füchse und
Waschbären, Greifvögel und Wildschweine.
Diese 160 Tiere sind ein winziger Bruchteil der Realität. Zumindest laut
den Schätzungen der portugiesischen Biologin Clara Grilo. Hochrechnungen in
ihrer [1][Studie zu Roadkill] aus dem Jahr 2020 haben ergeben: Jedes Jahr
sterben in Europa rund 29 Millionen Säugetiere und 194 Millionen Vögel
durch den Straßenverkehr. Roadkill auf deutschen Straßen hat daran einen
signifikanten Anteil. Grilo erklärt, dass sie allein für Deutschland von 3
Millionen getöteten Säugetieren und 16 Millionen Vögeln pro Jahr ausgeht.
Demnach sind deutsche Autofahrer:innen für 8 bis 10 Prozent des
Roadkills in ganz Europa verantwortlich.
Dafür gibt es zwei mögliche Ursachen: Deutschland hat das dichteste
Straßennetz in ganz Europa. Und die Autos, die auf diesem Straßennetz
unterwegs sind, fahren zu schnell.
„Mit einem Tempolimit könnten viele Wildunfälle vermieden werden“, sagt
Martin Strein, Biologe an der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt
Baden-Württemberg. Wer in der Fahrschule oder im Physikunterricht
aufmerksam war, erinnert sich vielleicht: Bei doppelter Geschwindigkeit
vervierfacht sich der Bremsweg. Gerade wenn flinke Tiere wie Rehe und
Wildschweine die Straße überqueren, entscheiden deshalb insbesondere bei
höheren Geschwindigkeiten oft wenige Stundenkilometer über Leben und Tod.
Das Roadkill-Risiko ist aber auch von der Verkehrsdichte zu bestimmten
Tageszeiten abhängig. Berufsverkehr fällt zu bestimmten Jahreszeiten ins
Morgengrauen oder die Dämmerung und fordert dann besonders viele
Verkehrsopfer. Mehr Straßen lösen dieses Problem allerdings nicht, denn
grundsätzlich gilt: Jede neue Straße kostet Wildleben und Biodiversität.
„Wir sollten uns als Gesellschaft gut überlegen, wie weit unser Straßennetz
noch ausgebaut werden soll, beziehungsweise kann“, sagt Martin Strein.
Deshalb sind auch alle Maßnahmen zum Schutz von Wildtieren an Verkehrswegen
lediglich ein Kompromiss. Aber je nach Region und betroffenen Tierarten
können entsprechende Schutzmaßnahmen die Überlebenschancen des umliegenden
Wildlebens zumindest deutlich verbessern. Dazu zählen
Geschwindigkeitsbegrenzungen und Warnschilder an besonders gefährlichen
Stellen, bessere Sichtbarkeit am Straßenrand, Zäune, Tunnel oder
Grünbrücken.
Für jedes neue Bauvorhaben muss in Deutschland individuell geprüft werden,
ob der Lebensraum und die Bewegungsrouten unterschiedlicher Tier- und
Pflanzenarten betroffen sind. Und Roadkill ist dabei bei Weitem nicht das
einzige Problem – unter anderem beeinträchtigen auch Lärm und
Luftverschmutzung, Lichtreize, Streusalz und nicht zuletzt die
Zersplitterung von Habitaten das Verhalten, die Fortpflanzungschancen und
damit das Überleben von Wildtieren.
„Unsere Gesetze sind in vieler Hinsicht ausreichend, aber die Umsetzung
dauert oft viel zu lange“, sagt Martin Strein. „Teilweise dauert es zehn
Jahre und länger, bis eine Grünbrücke steht.“ Laut den Zielen der
Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt sollten bis 2020 „von den
bestehenden Verkehrswegen in der Regel keine erheblichen Beeinträchtigungen
des Biotopverbundsystems mehr ausgehen.“
Der Biotopverbund wurde bereits 2002 im Bundesnaturschutzgesetz
beschlossen. Er soll sicherstellen, dass Tiere und Pflanzen so sicher wie
möglich von A nach B kommen. Egal ob zwischen diesen Lebensräumen ein
großes Feld, eine Siedlung oder eine breite Straße verläuft.
Laut Bundesnaturschutzgesetz sollen außerdem 10 Prozent der Landfläche als
Biotope für Wildleben erhalten werden. Ein Lagebericht des Bundesamts für
Naturschutz aus dem Jahr 2017 betont allerdings, „dass aktuell keine Daten
vorliegen, in welchem Umfang der Biotopverbund jeweils tatsächlich
umgesetzt und rechtlich gesichert ist.“ Auf Nachfrage der taz beim
Bundesamt für Naturschutz heißt es, dass es seitdem keine weiteren
Erhebungen gegeben hat.
Der Ansatz ist also da, die Umsetzung bleibt aber unklar. Jedes Bundesland
hat eigene Biotope und macht seine eigene Biotopverbundplanung. Vorgaben zu
einem einheitlichen Vorgehen gibt es kaum. Und einheitliche Angaben dazu,
welche Bundesländer das 10-Prozent-Ziel erreichen und wie erfolgreich die
Verbindung zwischen einzelnen Biotopen von unterschiedlichen Arten genutzt
wird, gibt es auch nicht.
Wildunfälle mit Reh-, Rot-, Dam- und Schwarzwild sind die einzigen, die in
Deutschland offiziell erfasst werden. Laut dem Deutschen Jagdverband werden
jedes Jahr [2][250.000 bis 300.000] Fälle gemeldet. Beim Bundesamt für
Statistik werden dagegen nur die Wildunfälle erfasst, bei denen
[3][Personen zu Schaden] gekommen sind: „Das führt zu skurrilen
Situationen“, sagt Torsten Reinwald, Pressesprecher des Deutschen
Jagdverbands. „Vor mehreren Jahren sollte die Bundesregierung auf Anfrage
der Opposition offenlegen, wie viele Wildunfälle es pro Jahr gibt. Die
Antwort: Na ja, so, knapp 3.000.“
Wie stark Roadkill den Bestand einzelner Arten tatsächlich bedroht, ist
schwer zu schätzen. Oftmals ist gar nicht bekannt, wie viele Tiere
einzelner Arten es überhaupt bei uns gibt. Eine gemeinsame Analyse von
Deutschem Jagdverband und Bundesamt für Naturschutz zeigt allerdings: Für
einige seltene Arten ist das Auto der Prädator Nummer 1. Laut
Roadkill-Erhebungen aus ganz Europa werden bei Luchs und Wolf bis zu 50
Prozent der Todesfälle durch den Verkehr verursacht. Beim Fischotter sind
es sogar 70 Prozent.
Michael Huth setzt den Blinker und biegt in die Einfahrt zur
Autobahnmeisterei. Dort wird er die Daten der Streckenkontrolle aus dem
Bordcomputer auswerten – Fundort, Zeitpunkt und Gegenstand. In den letzten
drei Jahrzehnten in der Autobahnmeisterei hat er viel gesehen. Schlimme
Autounfälle, einen totgefahrenen jungen Wolf, eine große aufblasbare
Gummipuppe im Straßengraben, die ihm einen ordentlichen Schrecken versetzt
hat.
Die Bilanz der kurzen Kontrollfahrt auf der A 10 von Rangsdorf bis
Ludwigsfelde-Ost, 11 Kilometer hin, 11 Kilometer zurück: Rund ein Dutzend
Reifenstücke und Fahrzeugteile. Ein verbogenes Straßenschild. Ein
Cuttermesser. Ein Schuh, Größe 42. Zwei Krähen, ein Marder, eine Elster.
4 Aug 2023
## LINKS
[1] https://esajournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/fee.2216
[2] https://www.jagdverband.de/zahlen-fakten/jagd-und-wildunfallstatistik/wildu…
[3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabe…
## AUTOREN
Friederike Walch-Nasseri
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