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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Aleksandar Zivanovic: Kühle Orte
Vor mir betritt ein gut gelaunter Mann mit Baby das Silent Green durch ein
altes Tor. Bis 2001 hieß dieser Ort noch Krematorium Wedding. Ab 1912
wurden hier Menschen eingeäschert, mehrere Hunderttausend. Seit 2015 finden
auf dem Gelände Filmvorführungen, Literaturfestivals, Konzerte,
Kunstausstellungen und alles, was dazugehört, statt. Es gibt ein
Restaurant, einen kleinen Imbiss, Künstlerbüros. Besonders beliebt ist die
gepflegte Rasenfläche, ein seltener Anblick im sonst eher struppigen
Wedding: Menschen liegen auf dem saftigen Grün, sonnen sich, trinken Bier,
machen Yoga, Kleinkinder lernen krabbeln, es gibt Blumen und
Sitzgelegenheiten.
Wie der Name schon sagt, ist es hier draußen eher silent, aber unter dem
green, in der renovierten „Betonhalle“, wie die ehemalige Leichenhalle
jetzt heißt, brodelt es. Am vergangenen Freitagabend wurde hier die
Ausstellung „Kiss the Moment – Von Wurmlöchern und Swingchronizitäten im
Bilduniversum von Dagie Brunderts“ eröffnet, die noch bis zum 27. August zu
sehen ist. Gezeigt werden mehrere Dutzend humorvolle und lakonische
Super-8-Film-Miniaturen über Pflanzen, Tiere, Menschen, Traumwelten und das
Leben.
## Ohne Chemikalien
[1][Dagie Brunderts Arbeiten sind verspielt und originell]: Schornsteine
verwandeln sich in rauchende Cowboys, Barbiepuppen kippen um. Die Filmerin
flaniert mit ihrer Kamera auch durch die Provinz, dort gelingt es ihr,
Magisches zu sehen. Originell ist auch die Art, wie sie ihre Super-8-Filme
entwickelt, denn dafür braucht sie nicht die üblichen Chemikalien, sondern
nur einen Liter Kartoffelwasser, 200 Gramm Waschsoda und 20 Gramm Vitamin
C, wie im Abspann vieler ihrer Filme zu lesen ist. Den Filmen schadet das
überhaupt nicht. Zurück aus der kühlen Unterwelt, draußen ist es sehr heiß.
Etwas Abkühlung bringt der kleine Urnenfriedhof, der an das Gelände grenzt.
Im Hintergrund ragt neben der „Kuppelhalle“, der ehemaligen Trauerhalle,
ein riesiger Schornstein in die Luft. Während der Nazizeit wurden hier die
Leichen vieler Regimegegner verbrannt, zum Beispiel der von Carl von
Ossietzky. Das Baby vom Eingang sitzt jetzt mit seinem Vater auf dem Rasen
und zeigt mit dem Finger in die Luft, aus einem Mundwinkel läuft roter,
dickflüssiger Himbeersaft.
## Orgel und Porträts
In der St. Afra Kriche in Gesundbrunnen findet Samstagnachmittag das
Abschlusskonzert der Internationalen Hill-Orgel-Tage statt. Was gibt es
Schöneres, als bei dieser Hitze in einem kühlen Raum zu sitzen, umgeben von
wunderbarer Musik? Organist Thorsten Putscher spielt mit dem Sinfonischen
Kammerorchester Berlin Francis Poulence und Joseph Gabriel
Rheinberger.Jonas Wilfert dirigiert.Die über 150 Jahre alte Orgel klingt
messerscharf, wenn Putscher die Akkorde reindrückt und reinfüßelt, es weht
ein Wind durch den Raum, die Orgel hat Kraft. Dieses Hill-Modell gilt als
die größte und schönste englische Orgel in Deutschland. Sie wurde 2015 aus
England importiert, mit viel Aufwand in ihre Einzelteile zerlegt,
gereinigt, gelötet und mitten in der von Mietshäusern umgebenen St.
Afra-Kirche sorgsam wieder aufgebaut. Es gibt viel Applaus.
Auf der Rückseite des NKZ am Kottbusser Tor gibt es viele neue Imbisse,
aber auch Menschen, die auf dem Boden sitzen und sich Drogen spritzen neben
den Mülltonnen, an denen hier und da Ratten herumhuschen und nach Resten
suchen. In der Whisky-Bar läuft gute Musik, Post-Punk von The Make-Up, aber
auch Charlie Parker. An den Wänden hängen Porträts von Stars der
Kulturindustrie: Lou Reed, Günther Wallraff, Lew Tolstoi. Aber auch Stalin
und Ho Chi Minh. Am Nebentisch unterhalten sich zwei. Einer: [2][Hast du
Barbie gesehen]? Der andere: Klaus Barbie?
22 Aug 2023
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## AUTOREN
Aleksandar Zivanovic
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