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# taz.de -- berliner szenen: Linke Geschichte mit Kaffee
Wochentags sieht man in diesem Café vor allem Berufstätige, die schnell
einen Espresso trinken oder still am Laptop arbeiten. Sonntags wirkt das
Publikum wie ausgetauscht. Die meisten haben sich hier verabredet, wie die
drei Mädels, die sich jubelnd begrüßen. Eine trägt weiße Kniestrümpfe in
schwarzen Krepp-Plateau-Schuhen, die andere hat weiße Schleifen ins Haar
gebunden. Sie werfen kurz einen Blick in ein Schulheft und suchen dann mit
hörbarer Vorfreude ihre voluminösen Kaffeemixgetränke aus. Der ganze Raum
ist eingetaucht in die Musik von George Brassens, Chanson pour l’Auvergnat.
Den Impuls mitzusingen unterdrücke ich – in meiner Oberstufe war der Titel
mal Thema einer Hausarbeit, ich kann den Text immer noch.
Auf einem Tisch steht eine Miniaturausgabe der Kelly-Bag, klassisch mit
goldener Schließe. Die Besitzerin muss ziemlich entspannt sein, die da so
rumstehen zu lassen. Falsch, es gibt keine Besitzerin. Die Tasche gehört
einem der beiden Männer vom Nebentisch. Wie er die wohl später rausträgt?
Am Unterarm, wie auf Fotos von Grace Kelly dokumentiert? Lässig, wie eine
Aldi-Tüte?
Ein Caramel Cinnamon ist fertig und der Barista stöhnt auf, als die mit den
weißen Kniestrümpfen Zucker reinrieseln lässt – schnöde zerstört sie die
Blüte, die er mit dem Milchschaum produziert hat. Die Mädels rätseln über
das in den Boden eingelassene Kreuz, das sie auf der Potsdamer Straße
gesehen haben. Jetzt komme ich doch zum Einsatz: Es erinnert an
Klaus-Jürgen Rattay, der hier zu Tode gekommen ist. Als Hausbesetzer hatte
er auf der Bülowstraße gegen Abriss demonstriert, während der Innensenator
sich auf dem Balkon eines gerade geräumten Hauses zeigte. Ein Bus hatte
Rattay mitgeschleift, er starb sofort. Die Mädels gucken entsetzt. „Krass.“
Claudia Ingenhoven
11 Jul 2023
## AUTOREN
Claudia Ingenhoven
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