# taz.de -- „Sissi hatte einen Anker tätowiert“ | |
> Schmuck, Statussymbol und Stigma: Kulturwissenschaftler Igor Eberhard | |
> über eine Methode, den Körper zu gestalten, der bis heute Vorurteile und | |
> negative Bilder anhaften | |
Bild: Ein Teil von Kirsten Krügers Skulptur „Alchemist“. In der Ausstellun… | |
Interview Mona Rouhandeh | |
taz: Herr Eberhard, woher kommen Tätowierungen? | |
Igor Eberhard: Grundsätzlich denke ich, dass Tätowierungen ein ganz, ganz | |
tiefes menschliches Bedürfnis sind und eigentlich parallel mit der Kunst | |
entstanden sind. Funde gibt es auf der ganzen Welt, das ist ja das | |
Spannende an dem Thema. Es gibt in so vielen Ländern und zu so vielen | |
Zeiten Indizien dafür, dass Tattoos etwas Besonderes waren und eine | |
wichtige Rolle gespielt haben. | |
Das heißt, auch im deutschsprachig Raum gibt es Tattoos eigentlich schon | |
immer? | |
Wahrscheinlich ja. Ötzi ist einer der ältesten Mumienfunde mit | |
Tätowierungen überhaupt. Das spricht dafür. | |
Und trotzdem waren Tattoos so lange stigmatisiert? | |
Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wo: In vielen indigenen Gesellschaften | |
waren Tätowierungen ein Symbol für Status oder Gruppenzugehörigkeit. Also | |
etwas ganz Wichtiges. Die Stigmatisierung ist je nach Kultur | |
unterschiedlich entstanden: Entweder durch die Missionierungen, in Japan | |
durch verschiedene Gesetzgebungen oder im deutschsprachigen Raum durch eine | |
starke Zuschreibung von Wertungen. | |
Und wie war das im deutschsprachigen Raum? | |
Selbst hier ist es nicht so eindeutig. Das sind immer so Wellen, wie | |
Tätowierungen wahrgenommen wurden. Es gibt Quellen vom Anfang des 19. | |
Jahrhunderts, wo immer wieder von einer regelrechten Tätowierungswut die | |
Rede ist. Das ist natürlich jetzt überhaupt nicht mehr verifizierbar. Aber | |
es gibt Quellen, die davon sprechen, dass damals 20 Prozent der Menschen | |
tätowiert gewesen waren. | |
Wie kam es dazu? | |
Durch die Seefahrer und die Kolonialisierung und das Verschleppen von | |
indigenen Menschen, die dann vorgeführt wurden, sind Tätowierungen viel | |
präsenter und sichtbarer geworden. Bei den Seefahrern und bei den Menschen | |
aus der Unterschicht waren Tattoos beliebt und dadurch hat sich das | |
verbreitet. Es gab sogar Interesse vom Adel und Hochbürgertum. Sissi hat | |
zum Beispiel einen Anker tätowiert bekommen. | |
Wurden Tattoos immer schon als Kunst verstanden? | |
Bei indigenen Gruppen wahrscheinlich weniger. Im europäischen Raum | |
vermutlich auch lange Zeit nicht bzw. kaum. Erst mit Aufkommen der | |
Professionalisierung der Tätowierung und dem Boom der tätowierten | |
Schausteller:innen Es gab auch ein großes Interesse an tätowierten | |
Schaustellern. Im Kuriositätenkabinett und auf Jahrmärkten sind Menschen | |
aufgetreten, weil sie eben tätowiert waren. Und das hat natürlich auch ein | |
gewisses Bild geprägt. Weil der Jahrmarkt natürlich nicht den besten Ruf | |
hat. | |
Standen die Menschen da freiwillig? | |
In der Anfangszeit wurden viele verschleppte Menschen gezeigt, also | |
Indigene und ehemalige Seefahrer. Aber dann, im 19., Anfang 20. | |
Jahrhundert, war das ein groß organisiertes Schaustellergewerbe. Die haben | |
das als lebende Kunstwerke inszeniert. Das war auch immer in Verbindung mit | |
den Geschichten, wie sie zu einer Tätowierung gekommen sind. Teilweise war | |
es auch Werbung für die Tätowierer. | |
So positiv blieb die Assoziation mit den Tattoos aber nicht. | |
Nein, das ist Ende des 19. Jahrhunderts gekippt, sehr stark sogar. | |
Warum? | |
Das hat verschiedene Gründe. Bei den Missionierungen musste man | |
ursprünglich eben auch begründen, warum die Menschen kolonialisiert und | |
christianisiert werden sollten. Tattoos wurden häufig schon früh auch | |
Primitivität oder etwas „Barbarisches“ zugeschrieben. Ende des 19. | |
Jahrhunderts verstärkten sich die Zuschreibungen drastisch. Auch ging es | |
vor allem darum, Andere als möglichst fremd darzustellen, um sich selbst | |
höher zu stellen, als Berechtigung, andere zu „zivilisieren“ und zu | |
erobern. | |
Was war dabei die Rolle der Wissenschaft? | |
Ganz wichtig war die ganze anthropologische und naturwissenschaftliche | |
Forschung, die versucht hat herauszufinden, warum Menschen unterschiedlich | |
sind. Man hat versucht, Tätowierung mit Evolutionsstufen zu verbinden. Das | |
ist jetzt sehr vereinfacht. Mit der Entstehung der Kriminologie als | |
Wissenschaft hat man dann früh begonnen, Kriminalität und Tätowierungen in | |
Verbindung zu bringen. Was aber auch häufig umstritten war. | |
Das heißt, man hat beobachtet, dass kriminelle Leute tätowiert sind? | |
Ja, so ungefähr. Das ist ganz spannend. Man hat versucht herauszufinden: | |
Warum sitzen Menschen im Gefängnis? Was sind das für Menschen? Neben | |
physischen Faktoren wie Schädel- und Körperformen ist man dann auch schnell | |
zu Tätowierungen gekommen. Man hat gemerkt, in den Gefängnissen sind sehr | |
viele tätowierten Menschen. Für manche Forschenden war dann ganz klar: | |
Tätowiert ist gleich Verbrecher. Das ist jetzt etwas überspitzt, aber die | |
generelle Zuschreibung war weitgehend so. Etwa von Cesare Lombroso und | |
seiner Schule. Es wurde auch immer wieder gesagt, „Tätowierung ist gleich | |
kriminell“. Man schrieb ihnen teilweise auch einen Hang zu | |
Schmerzunempfindlichkeit, unsozialem Verhalten, Masochismus oder | |
Homosexualität zu. Also allem einem ganzen Bündel an schlechten | |
Eigenschaften oder Werten. | |
Igor Eberhards Buch „Stigma Tattoo? Die Heidelberger Sammlung Walther | |
Schönfeld und ihr Beitrag zur Pathologisierung von Tätowierungen“ erscheint | |
voraussichtlich im Januar 2024 im Transcript-Verlag (300 S., 45 Euro) | |
20 Jun 2023 | |
## AUTOREN | |
Mona Rouhandeh | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |