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# taz.de -- Im Grau des Alltagslauert das Grauen
> Zum Zweifeln an der Wirklichkeit bringt Hamburgs Kunsthalle Werke von
> Vija Celmins und Gerhard Richter in einer Ausstellung zusammen. Das zeigt
> sehr reale Gemeinsamkeiten
Bild: Vija Celmins, ohne Titel, Grafit auf Acryl-Papier
Von Hajo Schiff
Diese besondere Doppel-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle bringt eine
US-amerikanische Künstlerin und einen deutschen Künstler zusammen. Vija
Celmins, 1938 in Riga geboren, ist hierzulande weniger bekannt als Gerhard
Richter. Aber beide sind international hochgeschätzt und hochbezahlt. Und
sowohl formal als auch inhaltlich passen beide zusammen.
Die Ausstellung beginnt mit einem Glaskasten mit zwei höchstähnlichen, ja
scheinbar gleichen, vom Meer fast rundgeschliffenen Steinen. Ein netter,
vielleicht etwas anekdotischer Auftakt für eine „Double Vision“ betitelte
vergleichende Bilderschau. Ohne zusätzliche Information dürfte es nahezu
unmöglich sein, zu erkennen, dass der eine davon ein heller Granit und das
andere ein akribisch bemalter Bronzeguss ist: Kunst als perfekte
Augentäuschung, ein Einstieg in die konzeptionelle Präsentation einer
jahrzehntelangen Befragung des Realitätscharakters künstlerischer
Darstellung voller Spiegelungen und Doppelungen.
Erstmals werden die ebenso theoretischen wie oft extrem aufwendig
gearbeiteten Arbeiten von Vija Celmins und Gerhard Richter zusammen
ausgestellt. Sie zeigen äußerst verblüffende Parallelitäten in Motivik,
Machart und Motivation – sowie eine gemeinsame starke Vorliebe für die
Farbe Grau. Farblich reduziert, den damaligen schwarz-weißen Fotos und
Printmedien angepasst, werden in feinen Grauabstufungen ab 1964 einfache
Alltagsobjekte, Lampen, Stühle, Vorhänge aber auch abstürzende
Kriegsflugzeuge für beide bildwürdig.
Denn hinter dem Alltag lauert das Desaster, nicht nur wenn bei Richter die
Konturen verschwimmen, bei Celmins eine Lampe seltsam lebendig scheint und
wenn in einem ihrer ansonsten grauen Bilder eine Kochplatte rotbraun glüht.
Künstlerin und Künstler sind zudem durch die Erinnerung an Krieg und Flucht
geprägt: Richter, 1932 in Dresden geboren, erlebte den Untergang der Stadt
1945 und flüchtete später aus der DDR.
Celmins Familie floh 1944 aus Lettland vor der Roten Armee nach
Süddeutschland. Nach dem Krieg zog die Familie nach Indianapolis weiter.
Der Vietnam-Krieg mag frühe Traumata dann wieder geweckt haben. Ob eher
technisch gezeigt oder verwischt, wie unscharf erinnert, sind Kriegsszenen
und Flugzeuge nicht als solche dargestellt, sondern die Bilder zitieren
Fotos und Zeitungsausrisse: Die Realität ist nur medial zu haben und die
Kunst tut daran, ihre eigenen Bedingungen mitzureflektieren.
Immer wieder geht es beiderseits des Atlantiks auch um „Augentäuschung“, in
der Kunstgeschichte als „Trompe-l’Oeil“ bezeichnet. Da sind Richters öft…
perfekt illusionistisch gemalte „umgeschlagene Blätter“, scheinbar nur ein
Papier mit einer rechts unten etwas hochgeklappten Ecke. Da sind die zwei
kleinen Schultafeln – eine davon ein Fundstück, die andere eine genaueste
Kopie von Celmins. Doch es geht nicht nur um die Wahrnehmung im Kleinen,
auch das Bild vom Universum könnte auf Täuschungen beruhen. Klar, dass auch
der von Weitem wie eine astronomische Aufnahme aussehende nächtliche
Sternenhimmel eines von Celmins akribisch gemalten Ölbildern ist. Eine
kalte Verblüffung, also eine nicht überwältigende, sondern langsam sich
einschleichende stellt sich vor den grauen Meeresbildern ein: Sieht in
Richters zwei Meter im Quadrat großem Bild „Seestück (See-See)“ von 1970
die Wolkenformation am Himmel über dem Meer nicht genauso aus wie ein
Spiegelbild der Wasseroberfläche selbst? Geht der Horizont gar nur auf eine
Klebelinie zweier über Kopf montierter Fotos zurück? Und wenn es so wäre,
was bedeutet das für unsere Wahrnehmung von Wasser, Welt und Weltabbild? Im
gleichen Raum hängen auch die Meeresstudien von Celmins: Auch hier ist eine
Meeresoberfläche akribisch gemalt oder gezeichnet, der Wind über den Wellen
ist fast zu spüren – doch eigentlich ist alles ohne jeden Hinweis auf Ufer
oder Horizont nur eine musterhafte Abstraktion.
Auch die einzeln vielleicht etwas simplen einfachen Spiegel und leeren
Fenstergläser von Richter machen in dieser ganz auf Realitätserforschung
ausgerichteten Ausstellung besonders Sinn: Kann doch seit der Renaissance
ein Bild als Blick aus dem Fenster beschrieben werden und als möglichst
wirklichkeitsgetreuer Spiegel der Welt – warum also nicht die puren Objekte
selbst zur Kunst erklären.
Bisher nur eine Fußnote in kunsthistorischen Texten, zeigen die
Gemeinsamkeiten in dieser Ausstellung, dass selbst der globalisierte
Kunstmarkt nicht alle gebotenen Vergleichbarkeiten kennt. Sie setzt die in
Europa noch zu wenig bekannte Vija Celmins in das gebührende Licht und
zeigt, dass der Kölner Superstar Gerhard Richter zwar nicht weniger super,
aber doch nicht singulär ist. Und sie macht mit 60 Werken hochkarätiger
Kunst klar, wie faszinierend es ist, intensiv die Möglichkeiten auszuloten,
im Abbild Realitäten zu erfassen.
Vija Celmins – Gerhard Richter: Double Vision, [1][Hamburger Kunsthalle].
Bis 27. August
12 Jun 2023
## LINKS
[1] http://www.hamburger-kunsthalle.de
## AUTOREN
hajo schiff
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