# taz.de -- Furchtlose Menschlichkeit | |
> Die Beschäftigung mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine spiegelt sich | |
> in einer Vielzahl aktueller Bücher wider. Der hervorragende Band „Aus dem | |
> Nebel des Krieges“ versammelt ukrainische Perspektiven | |
Bild: Alltag im Krieg: Menschen suchen Schutz in einer Metrostation in Kyjiw im… | |
Von Marcus Welsch | |
Mit dem Sammelband „Aus dem Nebel des Krieges“ ist das vielleicht | |
wichtigste Buch zur Gegenwart der Ukraine hierzulande erschienen. Es | |
versammelt subjektive Beobachtungen zum ersten Kriegsjahr und wagt eine | |
übergreifende Gegenwartbeschreibung. Es fällt vor allem die hohe | |
literarische Qualität persönlicher Beschreibungen von ukrainischen | |
Autorinnen und Autoren auf. | |
Gleich der erste Text „Spiegel der Seele“ ist ein großer Wurf. Wie Kateryna | |
Mishchenko die ersten Kriegstage skizziert, lässt einem den Atem stocken. | |
Wie sie am Fenster eines Freundes in Kyijw die ersten unfassbaren Momente | |
der Raketenangriffe schildert, zeigt mehr als die eigene Fragilität. Sie | |
evoziert ein ganzes Panoptikum an übergreifender Kommunikation, | |
Traumbildern und Erinnerungen. In den Blicken zwischen den Frauen auf ihre | |
Kinder in den Zügen zur Grenze öffnet sich eine ganze Welt | |
unausgesprochener Gedanken. | |
Diese Qualität von Intersubjektivität zeichnet viele Texte in diesem Band | |
aus. Denn während sie die Gewalt des Krieges zu bannen suchen und | |
gleichzeitige mit der Überwindung von Sprachlosigkeit ringen, wird ein sehr | |
eigenes Geflecht des Sozialen und der gesellschaftlichen Übereinkunft | |
deutlich. In der Zeit nach der Revolution auf dem Maidan 2014 ist die | |
Ukraine zu einem der interessantesten sozialen Mikrokosmen in Europa | |
geworden, der unsere Aufmerksamkeit kaum erreicht hat. Daran schließen | |
viele Texte an. | |
Die Filmregisseurin Oksana Karpovych transformiert jene Binnenbezüge der | |
ukrainischen Gesellschaft literarisch. Sie will als Zeugin diese | |
historischen Momente durch ihren Körper gehen lassen, auf deren | |
Erinnerungsfähigkeit sie vertraut. Der Blick auf Soldaten und ausländische | |
Journalisten, die gereizte Stimmung an den Checkpoints, die landesweite | |
Umwandlung in ein riesiges Versorgungsnetz der Freiwilligen. Sie lässt | |
nichts aus. Sie war in Butscha und stand unter Beschuss. Die offengelegten | |
Innenräume der zerstörten Hochhäuser, der veränderte Geruch der Metro – a… | |
das zeigt das „Schlimmste und das Beste zugleich“: eine „furchtlose | |
Menschlichkeit“. | |
In der ukrainischen Sprache gibt es für Menge und Finsternis ein und | |
dassselbe Wort: Homonyma. Was die Herausgeberin Mishchenko über die | |
ungezählten Verbrechen in diesem Krieg nachdenken lässt. Die Abfolge des | |
Buches ist klug gewählt. Man gewinnt immer mehr an Orientierung, so als ob | |
sich der Nebel doch lichtet. | |
Svitlana Matviyenko ordnet Strategien der Desinformation und Terror dieses | |
Krieges ein. Stanislaw Assejew, der vielleicht wichtigste Buchautor zur | |
Folter in den Gefängnissen des Donbass, entwickelt seine Idee von | |
Gerechtigkeit. | |
Die Journalistin Nataliya Gumenyuk berichtet von erschütternden Erfahrungen | |
der Menschen in den befreiten Gebieten. Die Aufbruchsstimmung in Mariupol | |
nach 2014 wird mit der russischen Zerstörungswut 2022 in Verbindung gesetzt | |
(Angelina Kariakina). Die Soziologin Oksana Dutchak vergleicht die prekäre | |
Situation der Kinderbetreuung ihres Landes mit den neuen Herausforderungen | |
vieler Frauen auf der Flucht nach Deutschland. | |
Allein diese prägnanten Binnendarstellungen wären schon den Kauf dieses | |
Buches wert. Doch der Ansatz ist weiter gefasst. Viele Sachverhalte müssen | |
transnational neu geklärt werden. Es gilt den imperialen Schrecken | |
Russlands und seiner „Provinzialisierung“ neu zu analysieren. Und zwar | |
ohne den „kolonialen Schimmer“, den man gerade hierzulande gütigst | |
übersehen wollte. Ohne tiefgreifende Wende zu einem profunderen Blick auf | |
Osteuropa kann man den entkolonialisierenden Diskurs auch hierzulande nicht | |
mehr führen. Die Phantomgemeinschaft „postsowjetischer Raum“ ist am 24. 2. | |
2022 endgültig zerbrochen (Tamara Hundorova). | |
Dazu muss der alte ideologische Ballast im Westen abgeräumt werden. Karl | |
Schlögel versucht das erneute Versagen deutscher Intellektueller seinen | |
ukrainischen Freunden zu erklären. Die Charkiwer Philosophin, Gründerin des | |
dortigen Zentrums für Gender Studies, wo die Aktivistinnen von Pussy Riot | |
ihre ersten feministischen Bücher lasen, zerpflückt souverän so manche | |
Lesart des Krieges und ungefragte Ratschläge westlicher Intellektueller. | |
Die Äußerungen zur Ukraine von Jürgen Habermas, Judith Butler und Noam | |
Chomsky lassen diese Autoren in der Kritik der Charkiwer Studentinnen | |
regelrecht alt aussehen. | |
Die doppelte Fluch und Isolation der Flüchtlinge aus dem Donbass (Volodymyr | |
Rafeyenko), Fragen der Verantwortung (Alissa Ganijewa) und der so ehrliche | |
und frappierende Bericht des Schriftstellers und Familienvaters Artem | |
Chapeye, wie er seinen jungen Söhnen erklärt, warum er nicht mit ihnen ins | |
Ausland, sondern in den Krieg ziehen wird, führt uns die Dringlichkeit vor | |
Augen, wie wir Europa neu denken müssen. | |
Man kann nur hoffen, dass diese kluge Textsammlung auch in anderen Sprachen | |
erscheinen wird. Man muss sie einfach lesen. | |
3 Jun 2023 | |
## AUTOREN | |
Marcus Welsch | |
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