# taz.de -- Emanzipiert vom Idyll | |
> Die RAW-Fototriennale in Worpswede ist politischer, internationaler und | |
> weiblicher geworden – und entfernt sich immer wieder mal von der | |
> Fotografie | |
Bild: Mächtige Symbolbilder: der Kampf iranischer Frauen, wie ihn Social Media… | |
Von Jan Zier | |
Stell dir vor, du bist in Worpswede und überall hängen nur Fotos. Also: | |
fast überall. Jedenfalls aber in allen vier großen Ausstellungshäusern | |
jenes backsteinsatten Künstlerdorfes, sonst ja ein Hort gut abgehangener | |
Landschaftsmalerei in Öl. Jetzt dominiert hier zeitgenössische Fotografie | |
aus aller Welt – das dreijährlich stattfindende „[1][RAW“-Festival] ist | |
wieder eingezogen. [2][„Turning Point. Turning World“] ist in diesem Jahr | |
das Motto, und es geht um alle ganz großen Fragen: Krieg, Klimawandel, | |
Flucht, Protestbewegungen, die eigene Identität, die Wahrheit. | |
Manchmal bilden die beiden Kunstwelten nun einen scharfen Kontrast. Weil: | |
So ganz verzichten wollen die Museen ja doch nicht auf jene Hausheiligen, | |
die ihnen sonst die Gäste bringen. In der Worpsweder Kunsthalle empfangen | |
einen also zunächst lauter Fritz Mackensens und Otto Modersohns und Hans am | |
Endes, norddeutsches Idyll von vor über 100 Jahren, Birken, Reetdächer, | |
Bauernwelten aus der Sicht der Düsseldorfer Exilanten. Einen Raum weiter | |
beginnt übergangslos die Ausstellung „#Fake“, mit teils verstörend | |
bearbeiteten Fotos aus den USA der 1940er- bis 1960er-Jahre, mit denen die | |
Polin [3][Weronika Gęsicka] den American Way of Life konterkariert. Auch | |
das allgegenwärtige Thema „Künstliche Intelligenz“ hätte hier gut Platz | |
gefunden, aber als Festivaldirektor Jürgen Strasser seine Triennale | |
konzipierte, war Chat GPT halt noch gar nicht veröffentlicht. | |
Es folgen mal mehr dokumentarische, mal eher konstruierte Serien rund um | |
das Thema „Fake“, die manchmal auf wunderbare Weise ganz neue | |
Wirklichkeiten erschaffen. „The City“ von [4][Lori Nix & Kathleen Gerber] | |
etwa: In der U-Bahn entwickelt sich eine Wüste, eine menschenleere | |
Bibliothek entfaltet den Charme eines Lost Place; in ihrer Mitte wächst ein | |
riesiger Baum einem kleinen Loch in der Decke entgegen. | |
Nur ein paar Ecken weiter, in der [5][Großen Kunstschau Worpswede, ist | |
„#Risk“] zu sehen, und hier wird es politisch, ohne zu missionarisch zu | |
sein: Auf Stelen aus Holz, die ein wenig an die Berliner Mauer erinnern, | |
hat die in Australien lebende Iranerin [6][Hoda Afshar] Bilder aus den | |
Protesten im Iran aufgezogen: Fotos aus den sozialen Medien, unscharf, | |
rauschend, überlebensgroß. Mächtige Symbolbilder sind es, die sich einem | |
entgegenstellen und die den Kampf der Frauen dort erst fassbar machen. | |
Fotos, die den Konflikt zu uns tragen und um ihrer Botschaft Willen | |
verbreitet werden sollen. | |
Welche Gefahr in solchen Fotos aber auch steckt, zeigen die Arbeiten von | |
[7][Siu Wai Hang] aus Hongkong von 2019: Die Gesichter der Demonstrierenden | |
sind hier sorgfältig ausgeschnitten, auch um sie vor der chinesischen | |
Verfolgung zu schützen. Die großformatigen Drucke auf Acrylplatten haben | |
beinahe bildhauerische Qualitäten, sie sind einer Installation näher als | |
einem klassischen Foto. Die Not der Menschen wird hier noch sichtbarer, | |
indem man ihnen ihre Identität, ihre Individualität nimmt. Ohnehin | |
verschwimmen auf dem RAW-Festival die Grenzen der Kunstgattungen: [8][Tina | |
Farifteh]s „The Flood“ etwa ist eine Videoarbeit, die sich der Geflüchteten | |
im Mittelmeer annimmt. Eindringlich ist hier, was man nur im Off hört, | |
während meditativ das blaue Meer über die Leinwand rauscht. | |
In seiner vierten Ausgabe ist das RAW-Festival noch anspruchsvoller, ist | |
die Kunst noch konzeptioneller, aber auch internationaler, weiblicher und | |
vielseitiger geworden. Das liegt auch daran, dass die vier Einzelschauen je | |
eigene Kurator:innen haben. Und so sind hier viele Künstler:innen | |
zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Auf große Namen hingegen wird | |
bewusst verzichtet. Der Weg ins Teufelsmoor soll sich ja lohnen: Strasser, | |
der auch die [9][Wiesbadener Fototage] verantwortet, will nicht | |
reproduzieren, was auch anderswo zu sehen ist – und im Nordwesten gibt es | |
so schnell nichts Vergleichbares. | |
Der Nachteil des Festivals: Worpswede, für viele „irgendwo bei Bremen“ | |
gelegen, ist eher ab vom Schuss, ohne Auto wird die Anreise mindestens | |
kompliziert. Trotzdem eignet sich der Ort im Landkreis Osterholz | |
hervorragend für das Festival. Nicht nur, weil Fotograf Strasser, dessen | |
Vater hier schon Künstler war, zeitweise selbst hier wohnt. Auch nicht nur, | |
weil das Festival dem Ort neue Impulse verleiht. Sondern auch, weil hier | |
alles dicht beisammen bleibt, trotz der verschiedenen Ausstellungsorte. | |
Im Mittelpunkt der einstigen Künstlerkolonie, dem [10][Barkenhoff], jenem | |
Jugendstilbau, in dem [11][Heinrich Vogeler] wohnte, zeigen sie „#Next“. Da | |
geht es um die womöglich eher überfordernde Frage, wie das alles | |
weitergeht, angesichts der ökologischen Krise. Die Ausstellung emanzipiert | |
sich an diesem Ort immer weiter von der Fotografie – das Ergebnis ist mal | |
etwas verkopft und mal erstaunlich poetisch. | |
Naturkundlich abgelichtete Schmetterlinge werden in Videos vor wechselnde, | |
lebensfeindliche Landschaften montiert, Häfen, verödete Strukturen, alles | |
ist aus der Vogelperspektive zu sehen. Fotografie im eigentlichen Sinne | |
zeigt hier nur [12][Shane Hynans] „Beneath“, ein eher | |
dokumentarfotografisches Projekt zum Ende des industriellen Torfabbaus in | |
Irland: Verödete Industrielandschaften kontrastieren unser oft romantisches | |
Bild der „grünen Insel“, diese Fotos erzählen von schwerer Arbeit und fest | |
verwurzelter kultureller Tradition, von Baracken und ökologischem | |
Neuanfang. | |
Wer näher an der Fotografie bleiben will, ist bei „#Ego“ im Haus im Schluh | |
besser aufgehoben: Mit vielen Porträts werden hier Migrationsgeschichten | |
erzählt, es geht – nochmals – um Frauenbilder aus dem Iran, um das eigene | |
Zuhause, um den Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, um | |
Familiengeschichten. | |
Wer aber nach vier Ausstellungen glaubt, das war es nun, der irrt. Da sind | |
ja noch diverse Sonderausstellungen, in denen etwa die Berliner | |
Ostkreuzschule für Fotografie zu Wort kommt, Arbeiten des Deutschen | |
Jugendfotopreises zu sehen sind oder – draußen in der Marcusheide – die | |
sehr streng formale Serie „Peripherie – Milieubilder aus Norddeutschland“ | |
von RAW-Mitbegründer Rüdiger Lubricht. Von jedem Worpswede-Idyll ist man | |
hier maximal weit entfernt. Und das mitten im Ort. | |
„RAW Photo Triennale“: bis 11. 6.; | |
www.raw-photofestival.de | |
11 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /!5673928&SuchRahmen=Print | |
[2] https://www.raw-photofestival.de/de/ | |
[3] https://weronikagesicka.com/en/start-1/ | |
[4] http://www.lorinix.net/ | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=3EDhQWbgyMA | |
[6] https://www.hodaafshar.com/ | |
[7] http://www.siuwaihang.net/ | |
[8] https://tinafarifteh.com/ | |
[9] https://wifo2022.de/de_de/ | |
[10] https://www.worpswede-museen.de/barkenhoff/historie.html | |
[11] /!5850235&SuchRahmen=Print | |
[12] https://www.shanehynan.ie/ | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
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