Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Intellektuelle und Erziehung nach der Schoah
> Demokratie trotz Auschwitz? Fabian Link erörtert die Rolle der
> westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945
Von Micha Brumlik
Spätestens 1968 – also wenig mehr als zwanzig Jahre nach der
bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland –
erlebte die westdeutsche Bundesrepublik einen unvergleichlichen
Demokratisierungsschub, dessen Ursachen und Wurzeln noch immer nicht ganz
geklärt sind.
Eine dieser Ursachen hat jetzt der Frankfurter Sozialwissenschaftler Fabian
Link in einer ebenso monumentalen wie in jeder Hinsicht präzisen Studie
geklärt. Sein Buch „Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der
westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit“ ist die bisher
beste und umfassendste Darstellung des entsprechenden Beitrags von
Soziologie und Sozialphilosophie zur Verbreitung liberaler und
demokratischer Haltungen.
Dabei sind Rolle und Funktion vor allem der Frankfurter Schule, also der
Arbeiten und des Wirkens von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, von Leo
Löwenthal und Herbert Marcuse bereits mehrfach erzählt und untersucht
worden: so in den einschlägigen Arbeiten von Rolf Wiggershaus, Alex
Demirović, Detlev Claussen und Martin Jay, von Regina Becker-Schmidt und
Karin Stögner, indes: keine dieser bisherigen Darstellungen weist eine
derart penible Kenntnis aller erforderlichen Quellen von den Anfängen bis
in die späten 1960er Jahre auf. Was aber Links Studie zudem von allen
bisher genannten Arbeiten unterscheidet, ist, dass er Wesen und Wirken der
„Frankfurter“ mit einem anderen – wie er es nennt – „Denkkollektiv“
vergleicht: der in diesem Zusammenhang wesentlich minder bekannten Schule
des Politologen und Soziologen Helmut Schelsky.
Er entwickelte bekanntlich die These von der Bundesrepublik als
„nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, legte als einer der ersten bereits
1955 eine „Soziologie der Sexualität“ vor und prägte den Begriff der
deutschen Jugend als „skeptischer Generation“, um schließlich 1975 den
seiner Meinung linksintellektuellen Zeitgeist jener Jahre scharf zu
kritisieren: Seine Schrift „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und
Priesterherrschaft der Intellektuellen“ war nicht weniger als eine massive
Polemik gegen den damals in der Bundesrepublik zum Teil hegemonialen,
undogmatischen, westlichen Marxismus.
Bei alledem darf freilich nicht übersehen werden, dass Schelsky eine nicht
unproblematische politische Vergangenheit hatte: 1912 in Chemnitz geboren,
trat er 1932 in die SA und 1937 in die NSDAP ein, um in den letzten
Kriegsmonaten an die „Reichsuniversität Straßburg“ berufen zu werden. Jah…
vorher an der Universität Leipzig promoviert und habilitiert, waren seine
Lehrer die nationalkonservativen beziehungsweise nationalrevolutionären
Hochschullehrer Hans Freyer sowie der später ebenfalls in der
Bundesrepublik aktive Institutionentheoretiker Arnold Gehlen.
Nach dem Krieg lehrte Schelsky zunächst gewerkschaftsnah an der Hamburger
„Akademie für Gemeinwirtschaft“, an der auch Helmut Schmidt und Karl
Schiller wirkten. Später dann, an den Universitäten Münster und Bielefeld,
mühte sich Schelsky um eine empirisch ausgerichtete, explizit nicht
gesellschaftskritische empirische Sozialforschung.
Sein Begriff von Demokratie „beruhte“, so Fabian Link, „auf der Übersetz…
der in der Zwischenkriegszeit entwickelten Idee einer deutschen
‚Volksgemeinschaft‘ in die amerikanisch-englische Vorstellung einer
partizipativen Demokratie.“
Das ist schon alleine deshalb bemerkenswert, weil es – wie Fabian nachweist
– nun ausgerechnet die konservative Leipziger Schule Freyers und Gehlens
war, die sich bereits in der Zwischenkriegszeit mit der Philosophie des
US-amerikanischen Pragmatismus, namentlich Deweys und Meads, befasst hatte.
Bei alledem hatten die beiden „Denkkollektive“ – der „Frankfurter“ und
Schelskys – durchaus miteinander wissenschaftlichen Kontakt, wenngleich sie
sich darüber hinaus persönlich sogar verachteten.
So bezeichnete Arnold Gehlen etwa die zurückgekehrten Emigranten Plessner,
Horkheimer und Adorno brieflich als „Sozialjuden“. Entsprechend verhielten
sich Schelsky und seine Schule zur NS-Vergangenheit Deutschlands sowie zum
Holocaust. Sie fragten nicht nach den Ursachen von Auschwitz, sondern
behandelten das Thema so, dass sie diese Frage „durch
technikphilosophisch-funktionalistische Überlegungen“, so Fabian Link,
„überdeckten.“
Mit Fabian Links „Demokratisierung nach Auschwitz“ liegt eine Studie vor,
die in ihrer Präzision, ihrem Quellenreichtum und ihrem kritischen
Urteilsvermögen auf noch nicht absehbare Zeit das unüberbietbare
Standardwerk zu Rolle und Funktion der Sozialwissenschaften in der
Bundesrepublik bleiben wird.
In seinen Schlussbemerkungen verweist Link darauf, wie stark die Prägungen
dieser Schulen, dieser – wie er sie nennt – „Denkkollektive“ die politi…
Kultur Westdeutschlands prägten: „Es waren diese zwei Positionen –
wirkliche Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit und Auschwitz als
Angelpunkt für eine demokratische Erziehung der Deutschen einerseits sowie
sozialwissenschaftlich und historisch distanzierte Analyse der deutschen
Gesellschaft andererseits –, die die vergangenheitspolitischen Debatten in
der Bundesrepublik von den 1960ern bis in die 1980er Jahre bestimmen
sollten. Dies zeigte sich noch im Historikerstreit in den späten 1980er
Jahren, als westdeutsche Intellektuelle und Wissenschaftler über die
Möglichkeiten und Grenzen der Historisierbarkeit des Holocaust stritten.“
Fabian Link: „Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der
westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit“. Wallstein
Verlag, Göttingen 2022, 640 Seiten, 66 Euro
30 Mar 2023
## AUTOREN
Micha Brumlik
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.