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# taz.de -- Unbekannte Verwandte
> Das Hamburger Ernst-Barlach-Haus stellt den – zumindest im deutschen
> Norden – wenig bekannten Schweizer expressionistischen Bildhauer und
> Grafiker Hermann Scherer vor
Bild: Aus rohem Holz: Hermann Scherer, „Mann und Weib“ (1924)
Von Hajo Schiff
Hermann Scherer nicht zu kennen, ist nicht ungewöhnlich: so geht es selbst
Kunstprofis. 1893 in Südwestbaden geboren, lernte er Steinmetz und wurde in
Basel ein eher traditioneller Bildhauer. In den 1920er- Jahren dann ließ er
sich von der Moderne inspirieren, besonders von Munch und den deutschen
Expressionisten. Er lernte den seit 1917 in der Schweiz lebenden Ernst
Ludwig Kirchner kennen, arbeitete ab 1923 mehrfach bei und mit ihm in
Davos. In den nur vier Jahren bis zu seinem Tod 1927 entstanden die Werke,
die Scherer zu einem der wichtigsten frühvollendeten Künstler der Schweiz
machen: Neben insgesamt 120 gemalten Arbeiten sind das vor allem die späten
25 Holzskulpturen und über 100 Holzschnitte.
Scherer wurde von Kirchner mal freundschaftlich gefördert, mal als
Konkurrent – besonders im Bereich Skulptur – sogar gefürchtet und
schließlich als bloß epigonal abqualifiziert. Das kaum objektive Urteil des
übermäßig von sich selbst überzeugten Kirchner bestimmt bis heute die
außerhalb seiner Heimat eher geringe Wahrnehmung des Schweizer Kollegen,
von dem in Hamburg nun sechs große Plastiken und über 50 grafische Blätter
zu sehen sind.
In Selbstbildnissen zeigt Scherer sich als schwer gezeichneter Mann,
kantig, ausgezehrt, mit schwarzen Augen. Das Gefühl existenzieller
Gefährdung und ein grundsätzliches Lebensleiden war in den 1920er-Jahren
nicht ungewöhnlich, ebenso wenig, sich allegorisch als todgeweiht krank
darzustellen: Scherer tat das bei bester Gesundheit und doch fast visionär
– zwei Jahre vor seinem Tod.
1924 gründete er die fragile, nur zwei Jahre bestehende
„Künstlervereinigung Rot-Blau“: Als Arbeitsgemeinschaft und Marketinglabel
der einst von Kirchner mitbegründeten „Brücke“ nachkonstruiert, stellt sie
sich heute für manche Kunsthistoriker nur als die nachgeborene „zweite
Generation“ der Expressionisten dar. Wie jede große Innovation wurde auch
der Expressionismus zum Stil – muss aber deshalb nicht zwangsläufig an
Ausdruckskraft verlieren. Mit dem Blick auf diese fast vergessenen Künstler
schleicht sich eine Frage ein: Könnte der Kontext interessanter sein als
die Kunst selbst? Und läge das an der Kunst oder vielmehr an den
BetrachterInnen, die das Dargestellte über die Darstellung stellen?
Im Blick auf das damalige kulturelle Umfeld öffnet sich ein Szenario mit
einem ausgeprägten Hang zu religiös fundamentierten Sozialutopien oder
geradezu einer kommunistischen Religion, zugleich auch mit ausschweifenden
Atelierfesten und freier Erotik – einige Skulpturen Scherers wurden einst
als „sittlich-moralisch verwerflich“ von Ausstellungen ausgeschlossen.
Diese Mischung aus Libertinage und Bolschewismus, die Nachwirkung jener
seltsamen Melange, in der Lenin 1916–17 in Zürich lebte und Dada erfunden
wurde, begeisterte Scherer zeitlebens: Er war mit linken Theologen
befreundet, illustrierte die Jugendzeitschrift der Kommunisten und war
fasziniert von politischen Agitatoren wie dem in allen linken
Splittergruppen aktiven deutschen Aktivisten Otto Rühle. Dessen Porträt
schnitt er 1925, und der wohl einigermaßen charismatische Rühle diente dann
ein Jahr später auch als Vorbild für die Skulptur „Der Redner“.
Während sein guter Bekannter Fritz Lieb, kommunistischer Funktionär,
Slawist und Theologe am Zürcher Großmünster, revolutionäre Predigten hielt,
illustrierte Scherer in Basel das Revolutionspoem „Die Zwölf“ des
russischen Dichters Alexander Alexandrowitsch Blok von 1918. Und leicht
abweichend vom Kern des Marxismus-Leninismus führt in Scherers letztem
Blatt Jesus Christus selbst mit blutiger Fahne die in Petersburg
marodierenden anarchistischen Rotgardisten an.
Zu dieser religiös überhöhten sozialrevolutionären Ideologie passt auch die
ganz diesseitige Skulptur einer Mutter mit Kind. Für die katholische Basler
Marienkirche als Entwurf für eine Madonna beauftragt, wurde Scherers Arbeit
dann aber als zu proletarisch zurückgewiesen. Das Verständnis dafür, das
Metaphysische gerade in der Armut irdischer Alltäglichkeit zu erfassen, ist
nicht immer gegeben. Hier bietet sich gerade im Kontext solcher
Leidens-Stilisierung der Vergleich mit Ernst Barlach an, seinem Hamburger
Quasi-Gastgeber.
In solcher Gegenüberstellung – die meisten von Barlach-Haus-Direktor
Karsten Müller präsentierten Ausstellungen fordern heraus zur
vergleichenden Neuinterpretation des Hausheiligen – ist Scherer kantiger,
expressiver, arbeitet „primitiver“ mit roherem Holz, idealisiert seine
Motive auch weniger in zeitloser Humanität. Das wird besonders deutlich in
der Kombination der Bildnisse prekärer Figuren, die nach Barlachs
Russland-Reise von 1906 entstanden sind, mit den Holzschnitten aus Scherers
Mappe nach Fjodor Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“: Die Faszination
für ein exotisiertes Russland als urtümlich einfach, dunkel vergeistigt und
tief religiös prägt beide.
Maskenhaft abstrahiert, scharfkantig und auf besondere Weise holzig
adaptiert Scherer in seinen 16 Illustrationen zu Dostojewski die Drastik
des zeitgleichen, auch wie der Holzschnitt auf Schwarz-Weiß-Kontraste
setzenden Stummfilms „Raskolnikoff“, von Robert Wiene, dem Regisseur des
bekannteren Klassikers „Das Cabinet des Dr. Caligari“. Scherer zitiert die
heute zugleich faszinierende wie erheblich übertheatralisch erscheinende
extreme Ausdrucksmimik sowie die schräg stürzenden Räume des in der
Ausstellung auch gezeigten Films von 1923 teils nahezu exakt. Es ist zu
vermuten, dass damals direkt im Kinosaal Skizzen gezeichnet wurden.
Nicht nur der Vergleich mit Barlach wird in der Ausstellung inszeniert,
auch der des fast bildhauerisch verstandenen, oft beidseitig bearbeiteten
Holzdruckstocks mit dem Papierabzug: Beide sind oft nebeneinander
ausgestellt. Das Holz ist dabei trotz der damalig nur geringen Auflagen
weitgehend schwarz durchgefärbt. Das liegt am späten Nachruhm: In den 60er-
und 70er-Jahren gaben die Erben größere Serien von Nachdrucken heraus. So
dunkelte das ursprüngliche Material ein, dafür trat der bekannter werdende
Künstler ans Licht.
„Kerben und Kanten. Hermann Scherer – Ein Schweizer Expressionist“: bis 4.
Juni, Hamburg, Ernst Barlach Haus
18 Apr 2023
## AUTOREN
hajo schiff
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