# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Ehmi Bleßmann: Anweisung für jede Lebe… | |
Über seinen zusammengekniffenen Augen verlaufen strenge Augenbrauen, die | |
nahtlos in den Rest der Kopfbehaarung aus wirrem Haupthaar und wüstem Bart | |
übergehen. Die spitzen Enden seines buschigen Schnauzers sind eine | |
Kampfansage. Es ist Samstagnachmittag und Karl Marx schaut mir böse ins | |
Gesicht. | |
„Wir alle hassen unsere Vermieter!“, ertönt eine mikrofonverstärkte | |
Frauenstimme, Menschen um mich herum bezeugen Zustimmung mit schüchternem | |
Gekicher, und ich traue mich nicht, Karl noch mal in die Augen zu sehen. | |
Der Gute ist auf einer der vielen Papierrollen abgedruckt, die von der | |
Decke des Museums des Kapitalismus hängen, in dem die Initiative „Deutsche | |
Wohnen & Co enteignen“ ihre Ausstellung über Enteignung eröffnet. | |
Berlin wird nachgesagt, in dieser Stadt fände sich Raum für jede Idee. Man | |
müsse nur wissen, wo man suchen soll. Und ich glaube, das stimmt: Es gibt | |
Raum für alles. Es kann sich halt nur bei Weitem nicht jeder leisten, hier | |
zu leben, blöd gelaufen, schade, schade. Deshalb ist eine Ausstellung über | |
die Wiederaneignung von Wohnraum ganz gut eingebettet in der Wiege des | |
durchgentrifizierten Kreuzbergs. Wie Enteignung historisch gewachsen ist, | |
wer in Berlin wen enteignen möchte und was überhaupt genau Eigentum ist, | |
das kann und sollte man sich hier zu Gemüte führen. | |
Neben mir wird eine frisch geöffnete Flasche Rotkäppchen in Pappbecher | |
verteilt, ein friedliches Bild. Ich frage mich, wie es wohl Kai Wegner | |
heute geht. Kommen Sie mal vorbei, Herr Wegner, genehmigen Sie sich ein | |
paar Erdnussflips, die gibt’s hier ohne Ende! Und dann setzen Sie doch | |
bitte bald den Volksentscheid um, das wäre wirklich eine Freude! | |
Es gibt Dinge, die sind dafür gedacht, sie Zuhause zu tun. Damit meine ich | |
nicht Alltagsaufgaben wie Haarewaschen und Schlafen, sondern Dinge, die man | |
gern unbeobachtet tut, weil sie einem vor Fremden einfach peinlich sind. | |
Wenn ich zum Beispiel eine Runde zu dramatischen Popsongs aus den 2000ern | |
heulen möchte, mache ich das natürlich lieber in Ruhe auf der Couch, als im | |
Café vor Leuten, die frisch frisiert ihren Chai Latte abschmecken und dabei | |
so aussehen, als hätten sie alles im Griff. | |
Für mich zählt dazu, ganz vorne mit dabei, Tatort gucken. Tatort ist | |
schnarchig und unspektakulär. Ich finde das großartig, eine Yogastunde ist | |
nichts dagegen in puncto Entspannung. Es fasziniert mich außerdem jedes Mal | |
wieder, mit welcher Absolutheit die Polizei in dieser Produktion als Retter | |
der Armen und Schwachen dargestellt wird. Naja, wo die Grenzen der | |
Kunstfreiheit liegen, ist eine andere Debatte. | |
Auf jeden Fall finde ich am Sonntag, es wird Zeit für ein Experiment. Ich | |
begebe mich raus aus dem, was man als Comfort Zone bezeichnet, und fahre | |
zum Tatort Screening nach Schöneweide ins Revier Südost. Das ist der | |
Nachfolger der Griessmühle, ein Veranstaltungsort, der ehemalig auf der | |
Sonnenallee lag. Der Mietvertrag wurde vom Eigentümer nicht verlängert, | |
deshalb musste das fest etablierte Kulturzentrum weichen, blöd gelaufen, | |
schade, schade. | |
Auf der Webseite des Revier Südost ist liebevoll aufgelistet, wie viele | |
Minuten Bahnverkehr die Gäste von zentralen Bahnhöfen aus zum neuen | |
Standort in den Osten einberechnen sollten. Eine sehr empathische Maßnahme, | |
Schöneweide klingt schon so, als wäre es weitab vom Schuss. Aber geht voll! | |
Das Public Viewing meines schnarchigen Abendprogramms findet in einer | |
großen, kuscheligen Scheune mit Holzeinrichtung und Pizzaofen statt. Die | |
einzige Besucheranweisung ist ein auf die Eingangstür gekritzeltes: „Bitte | |
nicht am Personal lecken!“ Fair, wirklich schlechte Ideen sollten dann doch | |
keinen Raum bekommen. | |
14 Mar 2023 | |
## AUTOREN | |
Ehmi Bleßmann | |
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