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# taz.de -- Geschichte machen
> Grausam, narzisstisch, übertrieben männlich, ohne Charisma, aber auch
> manch Positives: Der Historiker Ian Kershaw seziert in Porträts die
> Charaktere und Bedingungen der „Erbauer und Zerstörer“ des 20.
> Jahrhunderts und fragt nach dem Einfluss Einzelner auf den Lauf der
> Geschichte
Von Otto Langels
Außergewöhnliche Zeiten bringen außergewöhnliche Führer hervor, die
außergewöhnliche Dinge tun, schreibt der renommierte englische Historiker
Ian Kershaw in seinem neuen Buch „Der Mensch und die Macht“. Kershaw ist
unter anderem durch eine zweibändige Hitler-Biografie und eine zweibändige
europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts bekannt geworden.
Jetzt legt er ein weiteres Werk über das vergangene Jahrhundert vor, mit
„Erbauern und Zerstörern“ im Mittelpunkt: zwölf Europäer, darunter Lenin,
Mussolini, Hitler, Stalin, Churchill, Adenauer, Gorbatschow und Kohl sowie
als einzige Frau Margaret Thatcher. Sie alle eint, dass sie die europäische
Geschichte, und manche auch die Weltgeschichte, massiv beeinflusst haben,
häufig auch extrem negativ. Es ist wohl kein Zufall, dass zwei Drittel der
porträtierten Personen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzurechnen
sind, dem „Jahrhundert der Extreme“, wie es der große englische Historiker
Eric Hobsbawm genannt hat.
Die einzelnen Kapitel sind ähnlich strukturiert: Einer kurzen biografischen
Skizze folgen eine Analyse der jeweiligen politischen, sozialen und
ökonomischen Verhältnisse sowie eine Bilanz. Die vorzüglich geschriebenen
Porträts fallen knapp aus: „Mussolini war der Traum der Karikaturisten:
klein – er war nur 1,68 Meter groß –, gedrungen, kahlköpfig, mit seltsamen
theatralischen Gesten, zur Schau getragener übertriebener ‚Männlichkeit‘,
aufgeplusterter Arroganz, kämpferischer Miene, rollenden Augen, aggressiv
vorgestrecktem Kinn, gespreizten Beinen, geblähter Brust.“
Kershaw warnt jedoch davor, die heute seltsam erscheinenden Gesten und
Manierismen in ihrer damaligen Wirkung auf die Massen zu unterschätzen.
Trump lässt grüßen. Die Porträts lassen sich unabhängig voneinander lesen
und bieten einen anschaulichen Eindruck von den Personen und den
Zeitläuften. Eine anregende Lektüre. Beiläufig liefert Kershaw eine
komprimierte Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ohne Anspruch auf
Vollständigkeit.
Was Ian Kershaw besonders interessiert, sind die äußeren Umstände, die eine
Person an die Macht brachten. Diktatoren wie Benito Mussolini machten sich
„die äußerst zerstörerische, tief polarisierende Wirkung des Ersten
Weltkriegs, die weithin wahrgenommene Gefahr eines sozialistischen
Umsturzes und damit eines Zusammenbruchs der Ordnung“ zunutze. Ohne die
desolaten, in Auflösung befindlichen Strukturen und ohne Einverständnis der
konservativen Machteliten wäre Mussolini wohl nie zum Diktator
aufgestiegen.
Dazu bedurfte es allerdings bestimmter Charakterzüge, die Kershaw bei
„Erbauern und Zerstörern“ gleichermaßen registriert: Rücksichtslosigkeit,
außerordentliche Entschlossenheit, die Bereitschaft, auch im
sprichwörtlichen Sinn, über Leichen zu gehen, Zielstrebigkeit, Egozentrik
bis zum Narzissmus, Sendungsbewusstsein. Charles de Gaulle schrieb als
15-jähriger Schüler, er werde später einmal als General de Gaulle
Frankreich retten. Durch Bescheidenheit zeichneten sich die „Macher“ nicht
aus.
Doch begünstigt oder überhaupt erst möglich wurde der Aufstieg durch andere
Kräfte. Je größer die ökonomische und soziale Krise, umso größer das
Machtpotenzial des Einzelnen. Der Autor bezieht sich auf Marx’ „Der
achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, wonach die Menschen ihre eigene
Geschichte machen, aber nicht aus freien Stücken, nicht unter
selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen und gegebenen
Umständen. Besonders sichtbar war dies nach den beiden Weltkriegen.
Die erodierenden Strukturen bereiteten Lenin, Stalin, Mussolini und Hitler
den Weg, aber auch Churchill, de Gaulle und Tito. „Die extremen Krisen
ermöglichten den Aufstieg jenes Führertyps, der die Forderung nach einer
radikalen Lösung der Krise am besten vertrat oder die Hoffnung auf eine
nationale Rettung weckte.“
Auch der spanische Militär Francisco Franco gehörte zu denen, die durch
(Bürger-)Krieg an die Macht kamen. Kershaw nennt ihn einen
„nationalistischen Kreuzfahrer“, selbstbezogen, distanziert, diszipliniert,
ohne Charisma und demagogisches Talent, aber grausam und rachsüchtig. Seine
Autorität spielte er auf zynische Weise aus, indem er, der nur selten die
Toilette aufsuchen musste, seinen Ministern verbot, die stundenlangen
Kabinettssitzungen kurzzeitig zu verlassen.
Kershaw streut in seine Ausführungen solche Anekdoten ein, greift auch mal
zu Allgemeinplätzen. Dass die behandelten Personen nicht beliebig
austauschbar waren, versteht sich von selbst. Ebenso, dass andere
möglicherweise einen anderen Lauf der Geschichte bewirkt hätten. Kershaw
liefert jenseits von Marx und Max Weber keine neuen Erkenntnisse über das
Verhältnis von Macht und Mensch, doch dies schmälert nicht den Gewinn, mit
dem sein Buch zu lesen ist.
25 Feb 2023
## AUTOREN
Otto Langels
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