# taz.de -- Das Beben und die Folgen | |
> Für den türkischen Präsidenten Erdoğan scheint die Kontrolle der Lage | |
> wichtiger zu sein als schnelle Hilfe. Geht mit dem Erdbeben auch seine | |
> Ära zu Ende? | |
Bild: Kürzlich warnte der türkische Katastrophenschutz in einem internen Beri… | |
Von Wolf Wittenfeld | |
Eine Woche nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien wird | |
allmählich klar, welche Dimension das Desaster hat. Hatte man am Montag | |
unmittelbar nach den ersten Erschütterungen noch geglaubt, es mit einem der | |
örtlich begrenzten Beben zu tun zu haben, wie sie in der Türkei häufig | |
vorkommen, musste spätestens Montagmittag, als es erneut mit einer Stärke | |
von 7,6 bebte, klar gewesen sein, [1][dass etwas Außergewöhnliches passiert | |
war]. | |
Doch die Reaktion des staatlichen türkischen Katastrophenschutzes AFAD | |
entsprach dem Jahrhundertbeben in keiner Weise. Viel zu langsam kamen die | |
Rettungsarbeiten in Gang, viel zu wenig professionelle Helfer mit dem | |
notwendigen Gerät waren vor Ort, um Verschüttete aus den Trümmern zu | |
retten. Insbesondere die Größe des betroffenen Gebietes – die Bruchkante | |
des Bebens war 350 km lang – führte dazu, dass an vielen Orten bis zuletzt | |
kaum das notwendige Personal angekommen war. | |
Nach knapp einer Woche werden weitere Rettungen immer unwahrscheinlicher. | |
Die letzten Verschütteten wurden am Freitag 100 Stunden nach dem Beben noch | |
lebend geborgen. Mehr als 20.000 Tote sind bestätigt, weitere zehntausende | |
Menschen liegen noch unter den Trümmern begraben. Experten schätzen, dass | |
allein in der Türkei mindestens 60.000 Menschen getötet wurden. Es können | |
aber auch sehr viel mehr sein, die Regierung gibt keine offiziellen | |
Vermisstenzahlen an. | |
[2][Die Zahlen aus Syrien sind noch unvollständiger], aber auch dort | |
dürften mehrere zehntausend Menschen durch das Beben getötet worden sein – | |
auch weil noch weniger Rettungsmaßnahmen vorhanden waren. Rund | |
hunderttausend Menschen in der Türkei wurden verletzt, viele konnten nicht | |
adäquat versorgt werden. Noch immer sind nicht für alle Menschen, die durch | |
das Beben obdachlos wurden, Ersatzunterkünfte geschaffen worden, tagelang | |
mussten die Erdbebenopfer auf der Straße um ihr Überleben kämpfen. | |
[3][Die Regierung und Präsident Erdoğ]an persönlich behaupten nun, das | |
Beben sei ein Schicksalsschlag gewesen, Gottes Wille sozusagen; dagegen | |
habe man nicht ankommen können. Wer die Regierung kritisiere, sagte Erdoğan | |
bei einem Auftritt im Katastrophengebiet, sei ein „Unruhestifter und | |
Provokateur“, der bestraft werden müsse. Insgesamt 37 Kritiker, die sich in | |
den Sozialen Medien darüber beschwert hatten, dass der Staat die Opfer | |
alleinlässt, sind bereits festgenommen worden. Erdoğans Polemik richtete | |
sich auch an Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, der der Regierung bei | |
einem Besuch des Erdbebengebietes und erschüttert von der Situation vor Ort | |
schlimmes Versagen vorgeworfen hatte. Kılıçdaroğlu ließ sich von Erdoğan | |
aber nicht einschüchtern, sondern legte zwei Tage später noch einmal nach | |
und machte einen internen Bericht des Katastrophenschutzes AFAD öffentlich, | |
in dem dieser bereits im Herbst 2022 festgestellt hatte, dass sie auf ein | |
großes Beben gar nicht vorbereitet seien. „Was hat die Regierung mit diesem | |
Bericht gemacht?“, fragte Kılıçdaroğlu, „haben sie nicht zugehört?“ … | |
Kılıçdaroğlu für die CHP wie auch die kurdisch-linke HDP kritisieren | |
außerdem, dass eigene Rettungsinitiativen, insbesondere in den Städten, in | |
denen sie den Bürgermeister stellen, von der Regierung eher behindert als | |
befördert worden seien. | |
Erdoğan, klagt die HDP, gehe es mehr um Kontrolle als Hilfe. Dazu passt, | |
dass der Präsident zwar keine Unterstützung im großen Stil organisierte, | |
beispielsweise durch die Armee, aber bereits am Dienstag den | |
Ausnahmezustand für die gesamte Region verkündete, den das Parlament zwei | |
Tage später schnell bestätigte. Dadurch lässt sich die Deutungshoheit über | |
das Geschehen vor Ort besser kontrollieren. | |
Mittlerweile sind in der türkischen Erdbebenregion, auch dank der großen | |
internationalen Hilfe, viele Zeltstädte und auch einige Zeltlazarette | |
aufgebaut worden. Anders in Syrien, wo insbesondere in der von | |
islamistischen Aufständischen kontrollierten Region Idlib kaum Hilfe | |
angekommen ist, weder aus den von Diktator Assad kontrollierten Gebieten | |
noch aus dem Ausland. Zwar konnten die ersten wenigen LKWs über den | |
einzigen offenen Grenzübergang aus der Türkei am Donnerstag einige wenige | |
Decken und anderes Material herüber bringen, aber überlebensnotwendiges | |
Essen, Medikamente und Bergungsgerät fehlen immer noch. Entsprechende | |
Vorwürfe machte jetzt die letzte aktive zivile Rettungsorganisation in | |
Idlib, die Weißhelme, der Internationalen Gemeinschaft. Über ein Video | |
appellierte ihr Sprecher Raed Al-Saleh an die bei der UN akkreditierten | |
Journalisten in Genf und rief dazu auf, dass jetzt, da die UN offenbar | |
unfähig oder unwillig sei, zu helfen, andere Organisationen einspringen | |
müssen. | |
Auch auf der türkischen Seite der Grenze zur Region Idlib, in Hatay und | |
deren Hauptstadt Antakya, sah es mit Hilfe bis zuletzt schlecht aus. Über | |
der Stadt liegt ein stechender Verwesungsgeruch, einige der wenigen Retter | |
vor Ort nutzen bereits Gasmasken. Die Stadt ist in den letzten Jahren auf | |
bis zu 400.000 Bewohner stark gewachsen, weil viele syrische Flüchtlinge | |
über die nahe Grenze gekommen waren. Nun sind hier fast alle Häuser | |
zerstört. | |
In Adana, einer Millionenmetropole, die rund 120 km von Antakya entfernt | |
liegt und als Logistikzentrum für den Nachschub von Katastrophenhelfern | |
dient, traf die taz eine Gruppe freiwilliger Helfer, die gerade aus Hatay | |
zurückgekommen waren. Die jungen Männer, die aus Istanbul stammen, sind | |
erschöpft und deprimiert. „Ich war erst 15 Minuten dort und habe schon | |
angefangen zu weinen, dabei hatte ich zu dem Zeitpunkt noch gar keinen | |
Toten gesehen“, erzählt Burak, einer der Helfer. Sie bestätigen, dass | |
Antakya völlig zerstört ist. „Die Stadt sieht aus, als sei ein Ungeheuer | |
mit einer Abrissbirne durchgezogen“, sagt ein anderer der freiwilligen | |
Helfer. Dennoch wollen die Männer bald wieder zurück, denn immer noch sind | |
viel zu wenige professionelle Bergungstrupps vor Ort. „Wir haben zwar nur | |
wenige Hilfsmittel, aber ich denke, dass wir trotzdem etwas bewirken | |
können“, hofft Burak. | |
Obwohl in Adana nur wenige Schäden sichtbar sind, starben auch hier 168 | |
Menschen und 4.000 wurden verletzt. Auch in Adana schlafen viele noch in | |
ihren Autos, weil sie Angst vor weiteren Nachbeben haben. In der ganzen | |
Stadt wird über nichts anderes als das Beben geredet. Die meisten stehen | |
unter Schock. Ein Händler sagt: „Jetzt sind schon über 20.000 Menschen tot | |
geborgen. Was passiert jetzt?“ | |
In Istanbul und Ankara haben die Debatten über die Konsequenzen des Bebens | |
und die unzulängliche Reaktion der Regierung begonnen. Im Mai ist die wohl | |
seit Jahrzehnten wichtigste Präsidenten- und Parlamentswahl geplant. Doch | |
nun ist unklar, ob die Wahl im Mai überhaupt wie geplant stattfinden kann. | |
Im Moment ist es schwer vorstellbar, dass in der riesigen Katastrophenzone, | |
die sich über zehn Provinzen erstreckt, innerhalb von drei Monaten | |
überhaupt die technischen Voraussetzungen geschaffen werden können, dass | |
dort gewählt werden kann. Außerdem wird der für drei Monate erklärte | |
Ausnahmezustand in diesen Provinzen, der erst eine Woche vor dem geplanten | |
Wahltermin am 14. Mai endet, es der Opposition kaum erlauben, dort für sich | |
zu werben. | |
Erdoğan reagiert auch deswegen so harsch auf Kritiker, weil er Angst hat, | |
dass sein Katastrophenmanagement ihm bei der Wahl auf die Füße fallen | |
könnte. Diese Angst ist berechtigt, denn die unzulänglichen Maßnahmen nach | |
dem schlimmen Erdbeben 1999, nur 80 km von Istanbul entfernt, war ein | |
wesentlicher Grund, warum seine AKP bei den Wahlen 2002 haushoch gegen die | |
damals amtierende Regierung gewann. Auch der Leitartikler der | |
oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet erinnerte an das Beben von 1999: | |
„Sie kamen durch ein Beben an die Macht, sie werden durch ein Erdbeben | |
gehen“. | |
Mitarbeit: Kim Heine | |
11 Feb 2023 | |
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Wolf Wittenfeld | |
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