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# taz.de -- Wenn der Kampf um die Macht wegfällt
> HIERARCHIEN Ein Traum wird wahr: Eine Kooperative in Venezuela kennt
> keine Chefs – und ist damit erfolgreich
VON UTE SCHEUB
Ein Modell wollen sie nicht sein. Auf keinen Fall. „Es gibt kein
Patentrezept, jeder muss seine eigenen Lösungen finden“, sagen sie ein ums
andere Mal. Und doch ist die venezuelanische Kooperative eine Inspiration
dafür, dass eine Assoziation von Freien und Gleichen scheinbar auch mit
zehntausenden Menschen zu realisieren ist. Es muss ein Geheimnis geben bei
Cecosesola.
Ein Leben ohne Chefs? Wie soll denn das gehen, dass sich so viele Menschen
andauernd im Konsensverfahren verständigen? Und kommt man bei so vielen
Treffen und Gesprächen überhaupt noch zu Muße, Leben und Lieben? „Wenn wir
unsere Kommunikation als Arbeit sehen würden, wäre das furchtbar“, sagt die
34-jährige Carolina Colmenaves, die seit 16 Jahren bei Cecosesola arbeitet
und gerade mit zwei weiteren Mitgliedern auf Lesereise in Europa ist. „Aber
wir gehen auch in Parks oder machen Liebe, sonst hätten wir keine Kinder.
Und wir haben viele!“
Cecosesola heißt ausgeschrieben und übersetzt „Dachverband der
Genossenschaften für soziale Dienstleistungen im Bundesstaat Lara“. In der
Millionenstadt Barquisimeto betreibt Cecosesola drei Wochenmärkte, auf
denen sich rund 55.000 Familien mit Gemüse größtenteils von verbandseigenen
Landkooperativen versorgen. Zum Verbund gehören über 50 Basisorganisationen
mit rund 20.000 Mitgliedern: ein Transportbetrieb, eine Sparkasse, Läden
für Möbel und Haushaltsgeräte, ein Beerdigungsbetrieb sowie sechs
Gesundheitsprojekte, in denen jährlich knapp 200.000 Menschen behandelt
werden. Der Jahresumsatz: etwa 100 Millionen US-Dollar. Chefs gibt es
nicht, Jobrotation ist üblich, Entscheidungen werden im Konsens getroffen.
Womöglich ist das Geheimnis in der besonderen Geschichte von Cecosesola zu
finden. Allerdings nicht in ihrer Gründung, denn die hatte ironischerweise
eine antikommunistische Schlagseite. 1961 hob John F. Kennedy die „Allianz
für den Fortschritt“ aus der Taufe, um mit Sozialprogrammen die
Guerillabewegung in Lateinamerika einzudämmen. Mit Mitteln der CDU-nahen
Adenauer-Stiftung und der katholischen Caritas unterstützte das jesuitische
Centro Cumila in Venezuela die Gründung von Genossenschaften. Cecosesola
wurde 1967 als Dachverband initiiert.
Doch 1972 kündigten ihre Begründer die Allianz mit der Allianz auf und
schlossen sich der „Stiftung für kommunitäre Organisierung der
Marginalisierten“ an. Cecosesola ist bis heute linksorientiert, zur
Regierung von Hugo Chavéz mit seinem autoritären Staatssozialismus hält sie
Distanz. Als die Rechtsopposition im Jahr 2002 mit einem Streik Venezuela
lähmte, unterstützte Cecosesola weder den Streik noch Chavéz.
Cecosesolas Geschichte ist manchmal geradezu dramatisch bewegt. Mitten im
Kampf gegen städtische Fahrpreiserhöhungen wurde 1974 eine
Transportgenossenschaft gegründet, „von privaten Busbetreibern und der
Stadt heftig bekämpft“, wie Jorge Rath erzählt. Der 61-jährige gebürtige
Deutsche arbeitet seit 13 Jahren bei Cecosesola – inzwischen als
Akkupunktur-Therapeut und Website-Betreuer. Er berichtet, die Kerngruppe
von Cecosesola habe sich anfangs täglich getroffen und alles gemeinsam
entschieden. So sei eine besondere Gesprächskultur entstanden, die es bis
heute gebe.
Durch den Abbau von Hierarchie und den Aufbau von Vertrauen sei die
„kollektive Energie“ geradezu explodiert, heißt es dazu in dem Buch, aus
dem die Mitglieder der Kooperative bei ihrer Lesereise vortragen.
Solidarität vervielfache sich „genau dann, wenn wir verschwenderisch mit
ihr umgehen“.
In den siebziger Jahren organisierte die Buskooperative unzählige Demos,
Märsche und Umsonsttransporte für die Bevölkerung. Aber viele Busse wurden
beschlagnahmt und zerstört, der Ruin drohte. 1983 begann die Gruppe damit,
die restlichen Busse zu mobilen Gemüsemärkten umzubauen. Diese – inzwischen
stationären – Märkte wurden ein Riesenerfolg, zumal die Cooperativistas
Gemüse billiger verkauften. Aber das war wohl nicht der einzige Grund:
„Offensichtlich wird, sobald in einer Organisation der Kampf um die Macht
als zentrales Motiv zum Verschwinden gebracht wird, eine kollektive Energie
freigesetzt, die unter anderem in einer vorher ungekannten wirtschaftlichen
Produktivität zum Ausdruck kommt“, ist in dem Buch über Cecosesola zu
lesen.
Die 40-jährige Ilse Marquez, die in der Kooperative unter anderem in der
Buchhaltung arbeitet, weiß viel über die „patriarchalisch-kapitalistische
Kultur“ zu sagen, die sie überwinden wollen. Auch deshalb habe man sich
entschlossen, „Frauen“-Aufgaben wie Kloputzen oder Kochen rotieren zu
lassen. In der Küche etwa wechseln sich Frauen und Männer wöchentlich ab.
Die kollektive Entscheidungsfindung im Konsens sei vielleicht ihr größter
Erfolg, glaubt Marquez. In allen Betrieben gibt es wöchentliche
Versammlungen, hinzu kommen weitere Treffen zur Koordination oder zur
Pflege und Analyse ihrer Beziehungen.
Aber wie geht die Gruppe mit Fehlverhalten um? Marquez: „Wenn einer etwas
klaut, fragen wir in seiner Gegenwart: Was steckt dahinter? Warum haben wir
als Kollektiv es nicht geschafft, ihm bei der Transformation zu helfen?“
Für Außenstehende, gibt sie zu, sei das nicht leicht zu erklären. Sie
praktizierten eben eine neue Form des Denkens. „Kommunikation wird
überraschend flüssig“, heißt es dazu im Buch. „Manchmal brauchen wir nic…
einmal mehr darüber zu reden, um zu wissen, was wir alle denken. Telepathie
wird greifbar.“ Womöglich sei man schon „auf dem Weg zum kollektiven
Gehirn“. Vielleicht liegt darin das Geheimnis: Die Cooperativistas sehen
das Unsichtbare, die menschliche Verbundenheit, als ihren kostbarsten
Schatz, den sie hegen und pflegen.
19 May 2012
## AUTOREN
UTE SCHEUB
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