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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Aleksandar Zivanovic: Der König der Bö…
Silvester. Auf dem Weg zur Party: Am Leopoldplatz fliegen Raketen in den
Himmel. Ein Heuler schlägt in einen Balkon ein, überall sprühen die Funken.
Furcht einflößende Kanonenschläge erschüttern die Umgebung, lautes Geballer
aus Schreckschusspistolen, lachende Jugendliche.
Einer hat wegen eines Riesendonners etwas fallen gelassen, nun sucht er mit
der Taschenlampe den Boden ab und flucht. „Meine komplette Hood brennt“,
schreit ein Jugendlicher hocherfreut in sein Telefon.
In der U-Bahn singt eine Gruppe fröhlicher Menschen ein Lied auf Spanisch,
sie stampfen auf den Boden und sie pfeifen. Viele Menschen haben sich fein
gemacht und tragen ihre Salate zur Party.
Einer spricht die Frau, die ihm gegenüber sitzt, an: „Entschuldigung, bevor
ich aussteige, hier ist meine Nummer. Ich finde dich sehr nett, wir könnten
uns mal treffen, wenn du willst“, er hält ihr eine Visitenkarte entgegen.
Sie schaut verwundert, nimmt die Karte an, er verabschiedet sich und steigt
aus. Sie ruft jemanden an.
In Berlin hat an diesem Tag jeder halbwegs belebte Straßenzug einen
Böller-König. Einen König erkennt man an den vielen Taschen, die er
angeschleppt hat. Aber das ist nicht das einzige Erkennungsmerkmal, der
König hat immer auch eine Gefolgschaft um sich herum. Sie schauen dem
König zu, wie er Leuchtraketen, Heuler und anderes Donnerschießpulver
abfeuert, sie bewundern und bestaunen sein Tun. Es hat Stil, wie der
König der Böller vom Rathaus Neukölln sich an die Arbeit macht: Er beugt
sich über die Taschen und zieht den nächsten Schatz heraus, ähnlich, wie
ein DJ die nächste Platte aus der Kiste zieht – was wird wohl als Nächstes
durch die Luft fliegen? Dort, wo es Könige gibt, gibt es aber immer auch
die ignoranten Neider. Sie haben fürs Feuerwerk nichts übrig und laufen so
schnell wie möglich am Gebollere vorbei, nichts wie weg.
Angekommen auf der Party: Um 12 Uhr sind alle auf dem Balkon, über den
Dächern der Stadt knallt es bunt auf, das hat man so jahrelang nicht
erlebt. Auf der Party hat nur eine Person Raketen mitgebracht! Alle tummeln
sich um sie herum. Macht nichts, dass sie eher bescheidenes Feuerwerk
zündet, die Raketen. Eines der Gesprächsthemen beim Snack: Kinder und
Stillen. Später erzählt einer die Geschichte von Jozo, dem Schulfreund
seines Vaters, der in den 50er Jahren in Bosnien aufgewachsen ist. Jozo,
damals sechs, hat einen kleinen Bruder bekommen und ist dann in der großen
Schulpause immer nach Hause gerannt, um Milch von der Mutter zu nuckeln,
sie hatten sehr wenig Geld.
Im Wohnzimmer wird unter anderem getanzt zu „Ya Rayah“ von Rashid Taha,
„The End“ von den Beatles, „So ist das nun mal“ von Andreas Dorau, „B…
Count“ von Body Count, „Killing in the Name of“ von Rage, „The Time is …
von Moloko, „More than this“ von Roxy Music und „Theme of YoYo“ von Art
Ensemble of Chicago. Morgens, auf dem Weg nach Hause, ist es fast schon
wieder ruhig. In der U-Bahn hat der Schlummer einige Menschen heimgesucht,
friedlich schlafen sie, die Silvesternacht ist zu Ende.
Am nächsten Tag spazieren sich viele Menschen an der frischen Luft den
Kater aus den Knochen – bei 15 Grad. Ich glaube, ich habe noch nie an einem
1. Januar Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen gesehen, am Sonntag waren
es sehr viele.
Im Humboldhain übt eine Frau ihre Stimme, sie singt immer wieder exakt
dieselbe Passage unterhalb des Aussichtspunkts am Flaktower, dort, wo es
unter dem Beton besonders gut hallt. Wer am ersten Tag des neuen Jahres
bereits an sich übt, hat sich bestimmt einiges vorgenommen.
3 Jan 2023
## AUTOREN
Aleksandar Zivanovic
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