| # taz.de -- Jenseits der Leere | |
| > Margret Atwoods neuer Gedichtband „Innigst“ ist eine literarische und | |
| > politische Positionsbestimmung | |
| Bild: Atwoods Lyrik liest sich wie an Strand gespültes Treibgut | |
| Von Carsten Otte | |
| Die ersten Zeilen in diesem Lyrikband beschreiben auch die poetische | |
| Position, die Margret Atwood als Dichterin einnehmen möchte: „Dies sind die | |
| späten Gedichte. / Die meisten Gedichte sind späte, / versteht sich: zu | |
| spät, / wie der Brief eines Seemanns, / der eintrifft, nachdem er ertrunken | |
| ist.“ Der melancholische Gedanke, dass Atwoods Lyrik als Flaschenpost aus | |
| der Vergangenheit zu lesen ist, wie Treibgut, das ans Ufer gespült wird, | |
| hat gewiss mit dem Entstehungsprozess ihrer Dichtung zu tun. | |
| Die Arbeiten, die unter dem schönen Titel „Dearly“ beziehungsweise | |
| „Innigst“ herausgekommen sind, stammen aus der Zeit von 2008 bis 2019, und | |
| im Vorwort verweist die 1939 in Ottawa geborene Schriftstellerin darauf, | |
| dass sich ihr „Verfahren“, das sie nicht als solches verstanden wissen | |
| will, seit den Anfängen ihrer schriftstellerischen Karriere nicht geändert | |
| habe: Sie schreibe handschriftlich und lasse ihre Lyrik-Schublade über | |
| Jahre anwachsen, bearbeite die Gedichte dann im Laufe der Zeit wiederum mit | |
| dem Stift, tippe erst dann alles mit der Schreibmaschine ab, korrigiere die | |
| Verse, „tippe sie abermals ab“, lege die Papiere auf den Boden, um sie zu | |
| ordnen, sie zu verwerfen, abzuwägen. Die verschieden Arbeitsstufen führen | |
| auch dazu, dass die Autorin eher selten Lyrik veröffentlicht. Ihr letzter | |
| Gedichtband ist vor zehn Jahren erschienen, und das Procedere der | |
| Mehrfachbearbeitung ist erkennbar auch in den neuen, wiederum erstaunlich | |
| konzentrierten Gedichten, die sich selten über eine Seite erstrecken. Oft | |
| enthalten sie nur ein zentrales Motiv, das nahezu aphoristisch | |
| ausbuchstabiert wird. Gäbe es keinen Zeilensprung, die Texte verlören | |
| selten an Qualität. | |
| Margaret Atwood setzt ihre Stilmittel ohnehin betont zurückhaltend ein. | |
| Wenn die Autorin eine Katze, von der es heißt, sie leide unter Demenz, im | |
| Mittelteil eines Gedichts als „mottenfüßig“ und „eulenäugig“ beschre… | |
| bleibt es in diesem Stück dann bei den starken Neologismen, um mit anderen | |
| lyrischen Formen nicht abzulenken von der bitteren Schlusspointe, dass die | |
| „Geisterkatze“ sich wohl an nichts mehr erinnere und besser im alten Heim | |
| eingesperrt werden sollte, um draußen nicht verloren zu gehen. | |
| Erzählende Gedichte mit bildstarken Szenen wechseln sich bei Atwood mit | |
| nahezu existenzphilosophischen Reflexionen ab: „Gäbe es keine Leere, wäre | |
| es nichts mit dem Leben. / Denk mal drüber nach.“ Das lyrische Ich folgt in | |
| diesem Lob auf den Leerstand dem Müll aus verwaisten Häusern, aus denen | |
| dann wieder neue Schlüssel und neue Räume entstehen. Atwood trägt diese | |
| Suchbewegung einerseits mit einem Augenzwinkern vor, nimmt sie aber doch so | |
| ernst, dass sie sogar grafisch aufgelöst wird: „Das Zimmer, das so lange | |
| für mich stillhielt: / eine Leere eine Lücke ein Schweigen, / das eine | |
| unerhörte Handlung in sich birgt, / die nur auf meinen Schlüssel wartet, | |
| hofft: / Es werde Stoff.“ | |
| Die Themenpalette dieses Gedichtbandes ist erstaunlich: Es gibt romantische | |
| und dystopische Naturbilder, Tiergeschichten mit Walen und Werwölfen, | |
| apokalyptische Szenen mit brennenden Wäldern. Mal geht es um Mode, mal um | |
| alte, zumeist frauenfeindliche Mythen, um Untreue und friedlichen | |
| Nacktschneckensex – auch Außerirdische treten auf. Die Fremden aus dem All | |
| sind (wieder mal) intelligenter als die Erdenbewohner, sie „wollen, dass | |
| wir sanft / miteinander umgehen / auf der ganzen Welt. Eine Premiere“. Die | |
| als „Spätfilme“ untertitelten Mini-Folgen sind so sarkastisch wie | |
| politisch. Aber leider auch etwas überdeutlich in ihrer Botschaft. | |
| Überzeugender ist es, wenn Atwood aufs Unheimliche setzt, etwa wenn es um | |
| asymmetrische Geschlechterbeziehungen geht, dem Grundstoff ihrer Literatur. | |
| Die thematischen Verbindungslinien des lyrischen Werks zur eigenen Prosa, | |
| vor allem zu Atwoods Welterfolg „Report der Magd“ sind offensichtlich. Aber | |
| auch andere literarischen Referenzgrößen sind erkennbar, etwa die Lyrik von | |
| Nobelpreisträger William Butler Yeats oder auch Rilke, der mit dem Satz | |
| „Dichtung ist die Vergangenheit, die in unseren Herzen hervorbricht“ | |
| zitiert wird. Ziemlich lustig der Hinweis des Übersetzers Jan Wagner, der | |
| im Nachwort zugibt, diese Formulierung bei Rilke nicht gefunden zu haben | |
| (was allerdings nicht ins Gewicht fällt). | |
| Der Band liegt in einer zweisprachigen Ausgabe vor, und die deutsche | |
| Nachdichtung orientiert sich bis in kleinste Details am englischsprachigen | |
| Original, was auch daran liegen könnte, dass es für den Dichter Jan Wagner | |
| nur begrenzte Möglichkeiten gibt, über die Vorlage hinauszugehen, ohne sie | |
| zu verfälschen. | |
| Die Ästhetik mancher Gedichte wirkt tatsächlich etwas anspruchslos. So wird | |
| die zerstörte Natur in einem schlichten Klagelied beweint, das viel Pathos, | |
| aber wenig (sprachliche) Erkenntnis zu bieten hat: „O Kinder, werdet ihr in | |
| einer Welt ohne Vögel aufwachsen? / Wird es Grillen geben, wo ihr seid? / | |
| Wird es Astern geben? / Venusmuscheln, das ist das mindeste. / | |
| Vielleicht auch keine Venusmuscheln.“ Solche Zeilen taugen nicht zur | |
| artifiziellen Übertragung in eine andere Sprache. | |
| Das Titelgedicht „Innigst“ wiederum gehört zu den gelungenen Beispielen in | |
| diesem Band, weil die Trauer über Verlorenes auch sprachkritisch | |
| eingefangen wird: „Es ist ein altes Wort, das verblasst. Innigst wünschte | |
| ich. Innigst sehnte ich mich. Ich liebte ihn innigst.“ Und die Strophe zum | |
| Schluss lautet: „Gram: ein weiteres Wort, das man nicht mehr oft hört. Ich | |
| gräme mich innigst.“ In diesen Zeilen ist alles enthalten, was die | |
| Dichtkunst Atwoods inhaltlich und formal ausmacht, nämlich emphatische | |
| Verlustanzeigen und Kritik am Bestehenden, vorgetragen in einem prägnanten | |
| Sprachspiel, das auch das Plakative nicht scheut. | |
| 24 Dec 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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