# taz.de -- Freiheit des Unerwarteten | |
> Haben alle Befreiungsversuche neue Formen von Knechtschaft | |
> hervorgebracht? Der Philosoph Christoph Menke möchte eine neue „Theorie | |
> der Befreiung“ vorlegen | |
Bild: Mädchen vor dem Pessachfest. Die jüdische Befreiung aus der Knechtschaf… | |
Von Micha Brumlik | |
Wer sich beim Lesen des neuen Buchs von Christoph Menke mit dem Titel | |
„Theorie der Befreiung“ ein im engeren Sinne politisches Traktat erhofft | |
hat, wird auf den ersten Blick – abgesehen von einer kurzen | |
Schlussbemerkung – enttäuscht, dafür aber mit einem der bedeutendsten | |
philosophischen Bücher der letzten Jahre entschädigt. | |
Menkes Studie beginnt mit der Entfaltung jener beiden Freiheits- und | |
Befreiungsnarrative, welche die westliche Kultur bis heute begründet haben | |
und noch prägen: der „Demokratie“, die vor zweieinhalbtausend Jahren im | |
antiken Griechenland, in Athen, entworfen wurde, sowie der biblischen, etwa | |
tausend Jahre älteren Befreiungsgeschichte des Volkes Israel aus | |
ägyptischer Knechtschaft. | |
Dieser Befreiung gedenken Jüdinnen und Juden bis heute, indem sie das | |
Pessachfest begehen. Dieses Fest ist neben dem höchsten jüdischen Feiertag, | |
dem Versöhnungstag Jom Kippur, eines der beliebtesten und wichtigsten | |
jüdischen Feste. Erinnert es doch an die Befreiung des Volkes Israel aus | |
der Sklaverei der Pharaonen und besteht nicht zuletzt darin, während der | |
acht Festtage im Gedenken an Gottes Befreiungstat nur ungesäuertes Brot zu | |
verzehren. | |
An den ersten beiden Abenden des Fests erzählen sich Jüdinnen und Juden | |
anhand einer traditionellen Textsammlung, der „Haggadah schel Pessach“, die | |
Geschichte des Auszugs aus Ägypten und kosten dabei unter anderem | |
Salzwasser, um an die Tränen der Sklaverei zu erinnern. | |
An all das knüpft Menke an. Seine „Theorie der Befreiung“ vergleicht in | |
dialektischer Manier den Freiheitsbegriff der antiken griechischen Polis | |
mit dem Befreiungsnarrativ der Hebräischen Bibel, und zwar so, dass bei | |
diesem Vergleich das jüdische Narrativ besser abschneidet. Sei doch, so | |
Menke, die griechisch gedachte Befreiung nichts anderes als nur die | |
„Emanzipation des Bewusstseins“, während sich die jüdische Befreiung alle… | |
durch die „Erfahrung des Unerwarteten“ vollziehe. | |
Zentrale Belegstelle für diese These ist die Geschichte vom brennenden | |
Dornbusch im 2. Buch Mose, dem Buch „Exodus“. Dort erzählt das dritte | |
Kapitel, wie Moses die Schafe seines Schwiegervaters hütete, als „ihm der | |
Engel des Ewigen in einer Feuerflamme, mitten aus dem Dornbusch erschien, | |
und siehe, der Dornbusch brannte in Feuer, und der Dornbusch ward nicht | |
verzehrt.“ (Ex. 3,2) Des Weiteren erzählt die Bibel, wie Moses an diesen | |
brennenden Busch, der nicht verbrannte, herantrat und von Gott angerufen | |
wurde. | |
Diese Szene ist die Begründung für das Programm, das Menke in seiner Studie | |
entfaltet: das Programm eines „ästhetischen Materialismus“, also eines | |
Programms, das – anders als das griechische Denken sowie der deutsche | |
Idealismus, vor allem Hegels – darauf beharrt, dass es zur Befreiung eines | |
Anstoßes, eines „Faszinosum“ von außen und nicht nur einer | |
Selbstvergewisserung bedarf. Eines Anstoßes freilich, der alles bisher | |
Erfahrene übertrifft und ganz anders ist: Gott! | |
Bei alledem gilt – und das ist kritisch zu vermerken – dass es sich um eine | |
„Theorie der Befreiung“ und eben nicht – wie man meinen könnte – um ei… | |
„Theorie des Lebens in Freiheit“ handelt. Anders ist nicht zu verstehen, | |
dass Menke den griechischen Strategen Perikles mit nur einem Satz erwähnt. | |
Perikles jedenfalls sagte in einer – vom antiken Historiker Thukydides | |
überlieferten – Rede: „Und weil unsere Verfassung nicht auf einer | |
Minderheit, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht, trägt sie den Namen | |
„Demokratie“. Das ist so zu verstehen: Ein jeder hat, so weit es seine | |
persönlichen Angelegenheiten angeht, die gleichen Rechte. | |
Menke jedenfalls sieht „Befreiung“ grundsätzlich im Anruf, im „Gebot“ … | |
„Ganz Anderen“ begründet – eines Anrufs, eines „Gebots“, das zwar in… | |
Gesetze und politische Ordnungen münden kann, aber selbst kein Gesetz ist. | |
Diese, der jüdischen Philosophie Franz Rosenzweigs entnommene | |
Unterscheidung von „Gebot“ und „Gesetz“ soll verständlich machen, wie … | |
möglich ist, alles, was Gewohnheit und mithin Unfreiheit ist, zu | |
überwinden. | |
Man mag es akzeptieren oder nicht: Letztlich ist Menkes „Ästhetischer | |
Materialismus“ eine Kryptotheologie, was bei einem der Frankfurter Schule – | |
im weitesten Sinne – nahestehenden Philosophen nicht erstaunt. | |
Auf jeden Fall ist mit den hier referierten Themen nur ein Bruchteil dieses | |
alle Grundsatzfragen der politischen Philosophie nicht nur streifenden, | |
sondern – wenn auch indirekt – reflektierenden Werks wiedergegeben. | |
Wer auch immer sich für diese fundamentalen Fragen und mögliche Antworten | |
auf sie interessiert, sollte sich Zeit und Muße nehmen – schnell lässt sich | |
dieses epochale Grundlagenwerk nicht studieren. | |
24 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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