# taz.de -- taz🐾thema: Wenn Vater dem Sohn neues Leben schenkt | |
> Im vergangenen Jahr haben 475 Personen in Deutschland eine Niere für | |
> einen nahestehenden Menschen gespendet. Der Bundestag hatte 2020 eine | |
> Widerspruchslösung abgelehnt | |
Bild: 7.000 Deutsche warten auf ein neues Organ | |
Von Joachim Göres | |
Jeder Mensch hat zwei Nieren. Fast jeder. Siggi Meyer lebt mit einer Niere, | |
nachdem er im vergangenen Jahr seinem nierenkranken Sohn Niklas die andere | |
Niere gespendet hat. Mit einer funktionierenden Niere kann man ein normales | |
Leben führen. „Mir geht es nach der Operation gut und ich fühle mich fit. | |
Für mich ist es ein unbeschreibliches Glück, meinem Sohn ein neues Leben | |
schenken zu können“, sagt Siggi Meyer. | |
Vor der Transplantation wurde der 68-Jährige in einer Spezialklinik in | |
Hannoversch Münden mehrere Tage lang von Kopf bis Fuß eingehend untersucht. | |
„Ich wollte nicht, dass mein Vater ein Risiko eingeht. Die Voruntersuchung | |
hat gezeigt, dass er gesund ist. Auch die regelmäßigen | |
Kontrolluntersuchungen nach der OP tragen zu einem sicheren Gefühl bei“, | |
sagt Niklas Meyer und fügt lachend hinzu: „Eigentlich hat mein Vater mir | |
keine Wahl gelassen, sein Geschenk anzunehmen. Für ihn war das | |
selbstverständlich.“ | |
In Deutschland gibt es rund 90.000 Dialysepatienten – ihre Nieren | |
funktionieren nicht mehr, sodass sie auf ein Verfahren zur Blutreinigung | |
angewiesen sind. 7.000 von ihnen warten laut Deutscher Stiftung | |
Organtransplantation auf ein neues Organ, durch das sich ihre | |
Lebensqualität und ihre Lebenserwartung verbessert. Die durchschnittliche | |
Wartezeit auf eine Niere beträgt in Deutschland nach Angaben des | |
Bundesverbandes Niere sechs bis acht Jahre – nicht wenige Dialysepatienten | |
sterben, bevor sie an der Reihe sind. Bei Organen von lebenden Spendern | |
vergeht ungefähr ein Jahr von den ersten Untersuchungen bis zur | |
Transplantation. 2021 wurden in Deutschland 1.992 Nieren transplantiert. | |
1.517 stammten von verstorbenen Menschen, in 475 Fällen kam die Niere von | |
Lebendspendern. Sie werden nicht nur medizinisch, sondern auch | |
psychologisch vor der Transplantation betreut – so soll sichergestellt | |
werden, dass jeder seinen Entschluss bewusst trifft und niemand zur | |
Organspende überredet wird. | |
Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH), eine der größten | |
Transplantationskliniken in Europa, hat 2016 eine Studie über | |
Nieren-Lebendspender der letzten 30 Jahren durchgeführt. Sie waren zum | |
Zeitpunkt der Befragung jünger als 70 Jahre alt. Zwei Drittel der Spender | |
waren Frauen und ein Drittel Männer, zum Zeitpunkt der Spende waren sie im | |
Schnitt 49 Jahre alt. Organempfänger waren in erster Linie eigene Kinder | |
(42 Prozent), gefolgt vom Partner oder der Partnerin (39 Prozent), Bruder | |
oder Schwester (11 Prozent), anderen Verwandten (5 Prozent) und engen | |
Freunden (2 Prozent). Über diesen Personenkreis hinaus ist die Lebendspende | |
in Deutschland rechtlich nicht möglich. Andere Länder sind da liberaler. | |
Das führt dazu, dass in Israel auf eine Million Einwohner 30 | |
Nieren-Lebendspenden kommen – der weltweit höchste Wert. In Deutschland | |
liegt der Wert bei 5,4. | |
Auf die Frage „Würden Sie erneut eine Niere spenden, wenn das möglich | |
wäre?“, sagen 75 Prozent „auf jeden Fall“, 10 Prozent „wahrscheinlich�… | |
Ihren eigenen Gesundheitszustand schätzen 25 Prozent als sehr gut und 50 | |
Prozent als gut ein, 20 Prozent betrachten ihn als mittelmäßig. Das | |
aktuelle Verhältnis zum Organempfänger bezeichnen 61,3 Prozent als sehr | |
gut, 25,1 Prozent als gut und 6,3 Prozent als neutral. „Gerade bei Paaren | |
wirkt sich die Lebendspende oft positiv auf das Zusammenleben aus und | |
verbessert die Beziehung“, sagt Mariel Nöhre, Assistenzärztin in der | |
MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie. | |
Mittlerweile sind Lebendspenden selbst dann möglich, wenn Spender und | |
Empfänger nicht die gleiche Blutgruppe haben. Eine Garantie, dass das neue | |
Organ beim Empfänger funktioniert, gibt es allerdings nicht. Innerhalb des | |
ersten Jahres nach der Transplantation werden knapp zehn Prozent der Nieren | |
abgestoßen. | |
Bekanntes Beispiel ist der ehemalige Fußballprofi Ivan Klasnic, dessen | |
Körper die Niere seiner Mutter nicht akzeptierte. Insgesamt sind die | |
Chancen auf eine dauerhafte Verbesserung beim Organempfänger – eine neue | |
Niere arbeitet im Schnitt 15 Jahre – aber nach einer Lebendspende deutlich | |
höher. „Das Organ hält länger und besser, weil der Spender gut getestet | |
wurde und die Niere gesund ist“, sagt MHH-Oberarzt Nicolas Richter. | |
Niklas Meyer spricht von einem neuen Leben durch die Niere seines Vaters. | |
„Meine Krankheit ging schleichend vor sich und ich habe gar nicht gemerkt, | |
dass alles immer anstrengender wurde, ich mich immer schlechter | |
konzentrieren konnte und mich zurückgezogen habe“, sagt der 30-Jährige und | |
ergänzt: „Schon kurz nach der Transplantation ging es mir deutlich besser. | |
Heute kann ich wieder normal arbeiten und habe vor allem wieder Spaß, | |
Freunde zu treffen.“ Er würde sich freuen, wenn sich mehr Menschen Gedanken | |
über eine Lebendspende machen würden. Der Trend sieht so aus: 2012 | |
entfielen in Deutschland 30 Prozent der Nierenspenden auf Lebendspenden – | |
2021 lag der Anteil bei 24 Prozent. | |
FDP-Bundestagsabgeordnete hatten 2018 einen Vorschlag für die Reform des | |
Transplantationsgesetzes gemacht, wonach der Personenkreis für eine | |
Lebendspende ausgeweitet werden sollte. Der Bundesverband der | |
Organtransplantierten sieht das kritisch. Er spricht von einem | |
schwerwiegenden Eingriff, bei dem beim Spender unerwünschte Nebenwirkungen | |
wie das chronische Müdigkeitssyndrom auftreten könnten. In einer | |
BDO-Stellungnahme heißt es: „Es sollte darum gehen, Lebendorganspenden | |
möglichst überflüssig zu machen“ – durch mehr Einsatz für die postmorta… | |
Organspende. | |
In Deutschland kann Verstorbenen nur ein Organ entnommen werden, wenn sie | |
einen Organspenderausweis haben. In anderen Ländern muss man der Entnahme | |
widersprechen, wenn man nicht zum Spender werden will. Axel Haverich, | |
Leiter des MHH-Transplantationszentrums, fordert die Einführung der | |
Widerspruchslösung auch für Deutschland: „Dann hätten wir 20 bis 30 Prozent | |
mehr Organe zur Verfügung.“ | |
3 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Joachim Göres | |
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