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> Georges Adéagbo ist einer der bekanntesten Künstler Westafrikas. Mit | |
> Installationen im Ernst Barlach Haus in Hamburg deutet er zu seinem 80. | |
> Geburtstag Skulpturen des Bildhauers neu | |
Bild: Geschichten entstehen zwischen Barlachs Skulpturen und den von Adéagbo h… | |
Von Hajo Schiff | |
Eine auch nur annähernd richtige Interpretation dieser Ausstellung gibt es | |
nicht. Denn der Umgang von Georges Adéagbo mit Kunst ist wie eine geheime | |
Jagd mit neu geknüpften Netzen. Und die Beute sind viele Dinge und etliche | |
sich überlagernde Geschichten. Der zwischen Hamburg und Cotonou in der | |
Republik Benin pendelnde Künstler befasst sich schon seit Längerem mit dem | |
Expressionisten Ernst Barlach – jetzt hat er das ganze Museum im | |
Jenischpark frisch kuratiert und auf seine besondere Art kommentiert. | |
Der international zu den bekanntesten KünstlerInnen aus Westafrika zählende | |
Adéagbo, Teilnehmer zahlreicher Biennalen und der Documenta, ist auch in | |
Hamburg kein ganz Unbekannter: Zusammen mit Stephan Köhler ist er im | |
„Kunstforum Süd-Nord“ aktiv und vor fünf Jahren erhielt er den Kunstpreis | |
Finkenwerder samt Ausstellung im Kunsthaus. | |
Eine Glaskasteninstallation auf dem Altonaer Balkon enthielt schon 2015 | |
Verweise auf Barlach. Das musste das Interesse von Karsten Müller, Direktor | |
des Ernst Barlach Hauses, finden und führte zu einer Projektidee, deren | |
Ergebnis nun die Jubiläumsausstellung zum 80. Geburtstag Georges Adéagbos | |
ist. | |
Adéagbo ist ein unentwegter Sammler. Wo er auch ist, findet und kauft er | |
Objekte, Bücher, Magazine und Zeitungstexte. Aus allem, was verfügbar ist, | |
erstellt er dann immer wieder neue Konfigurationen, die Ähnlichkeiten mit | |
Auslagen eines Straßenmarktes, den Allegorien eines Voodoo-Altars oder dem | |
Weltbild einer vormodernen Wunderkammer haben, aber am ehesten als Objekt | |
gewordenes philosophisches Notizbuch zu sehen sind. Dabei umkreisen seine | |
Materialansammlungen ihr jeweiliges Thema, wollen aber nicht eine These | |
belegen, sondern öffnen einen weiten Raum möglicher direkter, indirekter | |
oder gar magischer Bezüge. | |
Es ist ein individuelles Durcharbeiten, eine Art kulturelles Recycling von | |
verschiedenen speziellen Aneignungen auch der großen Themen wie Liebe und | |
Leid, Religion und Krieg. Dass dabei eine afrikanische Position mit | |
eingebracht wird, ist manchmal überraschend, aber als persönlicher Filter | |
eigentlich selbstverständlich. Doch die interkulturelle Transformation von | |
Wertigkeiten und Bedeutungen positioniert sich nicht als Konfrontation, | |
sondern als Erweiterung. Adéagbos Methode funktioniert als Angebot, das | |
allerdings die geistige Mitarbeit der Betrachterinnen und Betrachter | |
braucht, damit sich in den Zwischenräumen der ausgewählten Kunstwerke und | |
der hinzugefügten Objekte, Bücher, Bilder und Zeitungsausschnitte die | |
Geschichten entfalten. Und die Geschichten, die Adéagbo gefunden und | |
erfunden hat, sind dabei genauso wichtig wie die eigenen dazu gedachten. | |
Adéagbo hat aus Barlachs neunteiligem „Fries der Lauschenden“ von 1935 den | |
„Empfindsamen“ entfernt und durch eine afrikanische Maske ersetzt. Der | |
Knabe mit den verschränkten Armen wurde dann in einem anderen Raum neu | |
positioniert und mit einer höchst eigenen Geschichte ausgestattet. Mit | |
einer zwischen Fußball und Schildkröte changierenden Maskenskulptur und | |
einem Buch über Fußball zu Füßen ist er nun jemand, der schmollt, dass er | |
nicht werden durfte, was er wollte … samt dem Verweis auf das Sprichwort: | |
„Es lohnt sich nicht zu rennen, wenn man nicht im rechten Moment losläuft.“ | |
Überall finden sich solche Um- und Neudeutungen, also die Manifestation | |
einer Rezeption, die sonst bestenfalls nur im Kopf der MuseumsbesucherInnen | |
stattfindet. Der hier komplexe, Kontinente umfassende Aneignungsprozess | |
wird besonders deutlich an den vom Schildermaler Benoit Adanhoumè nach | |
Adéagbos Entwürfen in Benin erstellten, wie frühneuzeitliche Embleme mit | |
Motto-Titel, Bild und daruntergelegtem Kommentar gestalteten Bildtafeln. Zu | |
den Illustrationen formuliert Adéagbo auf ihnen tastend assoziierend | |
philosophische Sentenzen – alles auf Französisch, aber es gibt | |
Übersetzungen. | |
„Ich bin hier, und das, wozu ich geboren und gemacht bin, ist dort drüben, | |
und bevor ich das werde, wozu ich geboren und gemacht bin, muss ich dort | |
drüben hingehen und sehen, was das ist, wozu ich geboren und gemacht bin, | |
und es mitnehmen, um hier zu bleiben: Die Philosophie, um Kunst zu machen. | |
Und Kunst ist ein Spiegel, in dem man sich so sieht, wie man ist …!“ | |
Dabei kommen die stets fluktuierenden und weiter wachsenden Geschichten aus | |
der uralten Tradition des poetischen Erzählens, für das es noch keine | |
schriftliche Fixierung gab. Im Gespräch mit Adéagbo – direkt oder über die | |
Arbeiten vermittelt – sind antike Legendennarrative zu erinnern oder die | |
Tradition der Griots, der wandernden Geschichtenerzähler, und dann kommt | |
Verwunderung auf, weshalb einem selbst bisher beispielsweise zu Barlachs | |
lebensgroßem Moses so wenig eingefallen ist. | |
Die verschiedenen Rezeptionsebenen produzieren auch kreativ wirkende | |
Fehler. In der Übertragung eines Fotos der Porzellan-Skulptur „Russisches | |
Liebespaar“ von 1909 wird die ovale Bodenplatte im afrikanischen Bild zu | |
einem Ei. Und aus dieser Umdeutung bildet Adéagbo einen neuen liebevollen | |
Schöpfungsmythos: „Der Vogel ist im Ei, wie das Ei im Vogel ist.“ | |
Adéagbo versäumt auch nicht zu fragen, was Barlachs Anregungen aus dem, wie | |
er sagte, „Herzen Russlands“ heute bedeuten – zumal in Anbetracht dessen, | |
dass Barlachs Russlandreise 1906 ausschließlich in Gebiete der heutigen | |
Ukraine ging. So politisch lesbar seine Installationen sind, sie suchen | |
auch immer den Bezug zum jeweiligen Ausstellungsort. So ist hier | |
beispielsweise ein wie eine Kopfmaske eingesetztes rot beleuchtetes Bustier | |
ein augenzwinkernder Wink Richtung Reeperbahn. | |
Diese Neugestaltung des ganzen Museums bricht radikal mit dem oft noch | |
vorhandenen Klischee, Barlach sei mit seinen oft Leid und Mitleid | |
umschreibenden Figuren so etwas wie ein evangelischer Seelentröster. | |
Darüber hinaus zeigt sie, dass es nicht damit getan ist, etwas im Museum | |
nach dem kunsthistorischen Kanon für gegeben zu halten, sondern dass | |
Offenheit für Kontexte, die aus fachwissenschaftlicher Sicht vielleicht | |
seltsam oder fremd anmuten, höchst produktiv ist. | |
Schon dass Adéagbo immer wieder von der „Schule“ von Ernst (Ernest) Barlach | |
spricht, – der Einzelgänger hatte so etwas niemals – scheint eine | |
Paraphrase dessen, was heutige Interessierte in zahlreichen | |
Vermittlungsformaten von der Kunst lernen wollen und können. Und wenn | |
Adéagbo zu Barlachs „Blindem Bettler“ (1906) bemerkt: „man hat seine Aug… | |
nicht, um sich ins Bett zu legen und zu schlafen, man hat seine Augen zum | |
Schauen und Sehen!“, so gilt das ganz sicher weit über diese wichtige | |
Ausstellung hinaus. | |
„A l’école de Ernest Barlach, le sculpteur – Georges Adéagbo zum 80.“: | |
Ernst Barlach Haus, Di–So, 11–18 Uhr, Baron-Voght-Str. 50a, Hamburg; bis | |
19. Februar 2023; www.barlach-haus.de | |
20 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Hajo Schiff | |
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