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# taz.de -- berliner szenen: Fällt runter vom Löffel zum Mund
Das Wetter fühlt sich feindlich an. Ich fahre mit der U-Bahn. Eigentlich
hatte ich yfood mitbringen wollen, weil M. kaum noch isst, hatte die für
ihn gekaufte Trinkmahlzeit jedoch am Vorabend selber ausgetrunken. So nehme
ich nur eine Packung Chips mit auf den Weg ins Pflegeheim. Als er vor zwei
Wochen von der WM gesprochen und gesagt hatte, komm doch vorbei, dann
gucken wir zusammen, war ich fast überrascht, dass er davon ausging, die WM
noch zu erleben. Wie jedes Mal hatte mir der Besuch beim alten Freund
Freude gemacht, und ich war überzeugt, in ein paar Tagen wieder bei ihm zu
sein; wie jedes Mal waren wieder zwei Wochen vergangen. Vor einem halben
Jahr war er das letzte Mal aufgestanden.
M. sieht ganz okay aus, besser als befürchtet. Er sagt, er würde wieder
mehr essen, aber vielleicht nur, weil es nervt, wenn man ständig ermahnt
wird zu essen. Noch mehr nervt, dass Sachen so leicht runterfallen auf dem
Weg vom Löffel zum Mund. Wir gucken die Eröffnungsfeier und die erste
Halbzeit des Eröffnungsspiels. Manchmal reden wir im Abendlicht, manchmal
sagen wir nichts. Meine erste WM war 1974; seine 1966. Es ist schön, mit
ihm am Fernseher zu sitzen.
Um halb sechs kommt die Pflegerin mit Abendbrot. Zwei Scheiben weiches
Brot, ein Marmeladenschälchen Mayonnaisesalat, bisschen Tomate, Paprika,
Tee. Ich nehme auch einen. Die Pflegerin schimpft über Katar und berichtet
von einer Frau in Burka in der U-Bahn, die geschimpft hatte wie ein
Rohrspatz, weil sie sich von einem Fahrgast angestarrt gefühlt hatte.
Innerlich ergreife ich die Partei der Frau, sage aber nichts.
M. fordert mich auf, von seinem Abendbrot zu essen, ich esse aber nur, wenn
du auch einen Happen nimmst. Wieder zu Hause freu ich mich, dass das
Fußballspiel immer noch läuft.
Detlef Kuhlbrodt
2 Dec 2022
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
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